Michael Hanaghan / David Woods (eds.): Ammianus Marcellinus from Soldier to Author (= Historiography of Rome and Its Empire; Vol. 16), Leiden / Boston: Brill 2022, XII + 420 S., ISBN 978-90-04-52529-0, EUR 145,52
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Bei den zwölf Beiträgen dieses Bandes, allesamt in englischer Sprache verfasst, handelt es sich um einen ausgewählten Teil der Texte, die ursprünglich im Rahmen einer Konferenz (Cork, 2018) vorgetragen wurden. Gemeinsamer Nenner aller Beiträge ist die Frage, welchen Einfluss die eigene militärische Erfahrung des Ammianus auf sein Geschichtswerk hat. Von der Einleitung der beiden Herausgeber (1-16) abgesehen ist der Band in drei Abschnitte untergliedert: Text, militärische Erfahrung, literarische Ziele und Methoden.
Der Abschnitt zum Text besteht aus genau einem Aufsatz, der ironischerweise von seiner Materie her die geringste Verbindung zum Oberthema des Bandes aufweist, aber dennoch der beste des ganzen Werkes ist. Gavin Kelly begründet darin die Notwendigkeit einer neuen Edition des Ammianus (19-58), die er mit einer beeindruckenden (wenngleich von ihm gewohnten) Kenntnis der Handschriften, Editionen und Forschungsliteratur vertritt. [1] Gerade aber weil Kellys Ausführungen eine hohe Qualität aufweisen, muss der eine problematische Punkt seiner Argumentation hervorgehoben werden: Kelly wendet sich gegen die "absurd idea" (94, Anm. 51), ein überlieferter Text sei nur dann zu ändern, wenn er nicht haltbar ist (50-52). Wenngleich ihm darin zuzustimmen ist, dass eine spätere Lesart dennoch einen fehlerfrei erscheinenden Text zur Folge haben kann, so darf das dennoch nicht dazu führen, dass der Text willkürlich verändert wird, wo das passend erscheint. Gerade Kellys konkretes Beispiel zeigt, dass es sich eben nicht um eine unproblematische Stelle handelt, sondern eine Textänderung (oder eine sehr plausible Erklärung) erforderlich ist.
Die vier folgenden Aufsätze haben, wenn auch mit unterschiedlichen Ausrichtungen, eher wortgeschichtlich-terminologische Ansätze. Maxime Emion (61-82) bemüht sich um eine genaue Erfassung der dignitas protectoris des Ammianus, der eine genaue Untersuchung der zentralen Begrifflichkeiten (protectores, domestici, dignitas, militia) vorausgeht. Hier sind mit der fehlerhaften, aber verständlichen Notiz 64, Anm. 23 und der fehlenden ersten Anm. 67 auf Seite 75 zwei Details zu korrigieren. Philip Rance (83-139) sammelt die Fälle der Verwendung von Soldatensprache bei Ammianus, die ihn zu dem Ergebnis führen, dass bei Ammianus eine gezielte Verwendung an bestimmten Stellen erfolgt, um seine Kompetenz in militärischen Fragen zu unterstreichen. Conor Whately (140-169) prüft die Informationen über die bei Ammianus auftretenden Legionen, die als zuverlässig, aber in den Details unvollständig beurteilt werden. Michael Wuk (170-203) zeigt, wie Ammianus den militärischen Eid als Teil der Gruppenidentität der Soldaten behandelt und jede Erwähnung das Resultat einer bewussten Entscheidung und als Kommentar zum Geschehen anzusehen ist.
Von seinem Titel her vielversprechend, aber in der Ausführung eher enttäuschend ist der Aufsatz von Jeroen W. P. Wijnendaele (204-227), der die Darstellung des Frankenkönigs Mallobaudes als Stellungnahme des Ammianus zu den Zuständen seiner Gegenwart, darunter der Usurpation des Magnus Maximus, erweisen will. So überzeugt die Argumentation im Einzelnen nicht immer, da etwa der Versuch der Demonstration, dass der im Jahr 355 genannte Mallobaudes mit dem des Jahres 378 identisch sein müsse (208-209), nur einige mögliche Gegenargumente beseitigt, aber keinen positiven Beweis erbringt. Schwerwiegender ist aber, dass die im Titel angekündigte Auseinandersetzung mit dem "Theodosian discourse" nicht erfolgt. Wijnendaele bietet zahlreiche wertvolle Beobachtungen zum Heerwesen des späteren vierten Jahrhunderts, die der Untersuchung der antiken Militärgeschichte nutzen werden, aber wie wenig Ammianus im Kontext der theodosianischen Diskurse verortet wird, zeigt die Tatsache, dass deren wesentliche Stimmen nur sehr knapp und oberflächlich Berücksichtigung finden.
Der dritte Teil beginnt mit der von Jon Lendon (231-261) durchgeführten Untersuchung der Schlachtenbeschreibungen bei Ammianus, die er als weitgehend nach den Konventionen der Historiographie gearbeitet ansieht, wenngleich er eine Besonderheit in dem Übermaß an Details und einer sich daraus ergebenden Überreizung der Sinne feststellt, die zu einem Ergebnis führt, das mit den tatsächlichen Schlachtenerfahrungen nicht mehr viel zu tun hat.
Álvaro Sánchez-Ostiz (262-286) sieht in der Kritik des Ammianus an soldatischem Luxus mehr als ein bloßes literarisches Motiv, sondern geht davon aus, dass die Kritik stets mit einem konkreten Ziel wie etwa der Entlastung des Ursicinus oder der Begründung der Niederlage bei Adrianopel vorgebracht wird.
Sigrid Mratschek (287-324), deren Untersuchung über den älteren Theodosius bei Ammianus die grundlegend überarbeitete Fassung eines früheren Aufsatzes zum selben Thema darstellt, sieht in der Erwähnung der Justitia im Rahmen der Geschehnisse eine versteckte Kritik und die Möglichkeit, den fehlenden Status als Augenzeuge in den späteren Büchern auszugleichen. In welchem Ausmaß man die stark literaturwissenschaftlich orientierten Ausführungen für überzeugend hält, hängt davon ab, wie weit man die tatsächlichen Geschehnisse um den Fall des älteren Theodosius erstens durch die moderne Forschung und zweitens durch die Zeitgenossen für korrekt rekonstruiert und überhaupt für rekonstruierbar hält, so dass die Relation des Ammianus sowohl zum historischen Geschehen als auch zu den kursierenden Erzählungen letztlich unklar bleiben könnte.
Moysés Marcos (325-356) zeigt, wie Ammianus in seiner Darstellung bei Julians Vorgehen gegen Constantius die Schnelligkeit seines Helden betont, um ihn nicht nur direkt positiv darzustellen, sondern auch unangenehme Details auszublenden und die wiederum ausführlich berichtete Belagerung von Aquileia als vereinzelten und daher bedeutungslosen Rückschlag inmitten einer klaren Erfolgsgeschichte darstellen zu können.
Die letzten beiden Aufsätze widmen sich dem Vergleich von Ammianus und einem früheren Autor. Recht naheliegend ist dabei die Wahl von Agnese Bargagna (357-376), die erfasst, wie die Soldaten bei Ammianus und Tacitus dargestellt werden. Das Ergebnis ist eher unbefriedigend, da zwar Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede und eine weitgehende methodische Eigenständigkeit des Ammianus festgestellt werden. Der Versuch, sich mit dem Hinweis auf die größere Bedeutung der Methodik gegenüber den Einzelergebnissen bei derartigen Studien zu retten (372), gelingt nicht, da auch hier kein wesentlicher Fortschritt zu verzeichnen ist und die Behauptung, dass "Ammianus' use of Tacitus is more a case of macro-textual engagement than specific lexical allusions" (359), sich letztlich einer endgültigen Beweisbarkeit entzieht, solange nicht ausgeschlossen werden kann, dass Ammianus weder von einem anderen Autor noch von seinen eigenen Erfahrungen beeinflusst ist.
Noch problematischer ist Guy Williams' (377-402) Versuch eines Vergleichs von Ammianus und Xenophon. Während er zeigen kann, dass beide Autoren ähnliche Techniken der Umdeutung von Niederlagen in Erfolge anwenden, begnügt er sich für die tatsächlichen literarischen Beziehungen mit dem Hinweis, dass es nicht einmal sicher ist, ob Ammianus überhaupt Xenophon gelesen hat (398). [2] Um von wirklich weiterführendem Wert zu sein, hätte entweder eine systematische Prüfung dieser Frage erfolgen müssen oder aber durch eine auf deutlich breiterer Grundlage durchgeführte Untersuchung zum Umgang antiker Autoren mit Niederlagen gezeigt werden müssen, dass bestimmte Eigenarten nur bei Ammianus und Xenophon nachzuweisen sind.
Den Aufsätzen folgen Register der Namen (403-408) und der zitierten Quellenpassagen (409-420). Die Korrekturen wurden sehr ordentlich durchgeführt, da sich nur wenige Druckfehler finden ließen und diese auch meist nur das schwierigere Feld der modernen Eigennamen betreffen (eine Häufung dessen fällt in Bargagnas Aufsatz auf).
Es ist erfreulich, einen der viel zu seltenen Fälle eines Sammelbandes zu sehen, der sich ein sehr spezielles Oberthema wählt und dieses auch konsequent einhält. Und doch legt man ihn mit einer gewissen Unzufriedenheit aus der Hand, was zwei Arten problematischer Aufsätze geschuldet ist. So enthält er zum einen Beiträge, bei denen man den Eindruck erhält, dass ein Vergleich um des Vergleichs willen durchgeführt wurde, dessen Ergebnisse auf zu schmaler Grundlage beruhen. Einige Aufsätze verlagern die Untersuchung des Ammianus auf abstrakte Ebenen und wollen sein Werk als eine Ansammlung literarischer Mittel, teilweise sogar als Aneinanderreihung von Fällen der Lesermanipulation erweisen. Von den ersteren sind nicht mehr als vorläufige Ergebnisse zu erwarten, wohingegen die zweiteren bei aller grundlegenden Rechtfertigung des Ansatzes von Auffassungen ausgehen, die den meinigen insgesamt entgegenstehen.
Dennoch kann der Sammelband durchaus empfohlen werden. Eine Reihe gelungener Aufsätze macht die Lektüre lohnenswert, auch wenn der Gewinn nicht immer im eigentlichen Aufsatzthema verortet ist, und auch bei grundlegenden Differenzen in Bezug auf die Methode wird man trotzdem (und manchmal auch gerade deswegen) von der Lektüre der Aufsätze profitieren. [3]
Anmerkungen:
[1] Hinzuweisen ist auch auf die von Kelly selbst als Digitalisat zur Verfügung gestellte korrigierte Fassung von Seite 35 (https://www.academia.edu/102433621).
[2] Zwei Beiträge zu diesem Problem, die sich für eine Lektüre Xenophons bei Ammianus aussprechen, werden 378 mit Anm. 6 notiert, allerdings vermisst man die gegensätzliche Ansicht von Enßlin, siehe Wilhelm Enßlin: Rezension von Johannes Straub, Vom Herrscherideal in der Spätantike, in: Philologische Wochenschrift 61 (1941), Sp. 633-645, hier: Sp. 641; und die neueren Stellungnahmen für Xenophon als Lektüre des Ammianus bei Classen, siehe Carl Joachim Classen: Nec spuens aut os aut nasum tergens vel fricans (Amm. Marc. XVI 10, 10), in: Rheinisches Museum für Philologie 131 (1988), 177-186, hier: 184; sowie Teitler, siehe Hans C. Teitler: Julian's Death-bed and Literary Convention, in: Ultima Aetas. Time, Tense and Transcience in the Ancient World, hg. von Caroline Kroon / Daan den Hengst, Amsterdam 2000, 71-82, hier: 77-78.
[3] Weitere Diskussionen des Bandes stammen von Alan J. Ross, in: Plekos 25 (2023), 521-528 (https://www.plekos.uni-muenchen.de/2023/r-hanaghan_woods.pdf) und Dario N. Sánchez Vendramini, in: Histos 17 (2023), LI-LXVI (https://histos.org/documents/2023RD05SanchezVendraminionHanaghan-Woods.pdf).
Raphael Brendel