Michael Farrenkopf / Andreas Ludwig / Achim Saupe (Hgg.): Logik und Lücke. Die Konstruktion des Authentischen in Archiven und Sammlungen (= Wert der Vergangenheit), Göttingen: Wallstein 2021, 287 S., 26 Abb., ISBN 978-3-8353-3797-8, EUR 18,00
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Als Gedächtnisorganisationen kommt Archiven, Museen und Bibliotheken bei der Konstruktion gesellschaftlichen Wissens große Bedeutung zu. Die Historizität der in ihnen vorfindlichen Bestände tritt jedoch hinter institutionengebundenen Authentisierungs- und Autorisierungsoperationen zurück, wie sie etwa im Archivwesen in Gestalt des Provenienzprinzips oder einer sich sukzessive verwissenschaftlichenden Bewertungsdiskussion begegnen. Letztere erinnert als Kassationslogik zugleich daran, dass die Konstruktion eines institutionalisierten Gedächtnisses auch auf der Vernichtung von dem Vergessen anheimfallenden Wissensbeständen beruht.
Wie Michael Farrenkopf, Andreas Ludwig und Achim Saupe betonen, bedarf historisches Arbeiten deshalb einer kritischen Sicht "nicht allein auf die Quelle, sondern auch auf den Fundort, der sie verfügbar macht und beglaubigt" (14). Folglich geht es ihnen nicht um Authentizität als solche, sondern um deren Herstellung und die damit verbundene Deutungsmacht von Archiven und Museen. Herausgekommen ist ein facettenreicher und wohl komponierter Band, dessen Lektüre zum Nachdenken darüber einlädt, welche Logiken auf die empirischen Grundlagen historischer Forschung einwirken.
Die Sektion "Sammlungs- und Ordnungslogiken" eröffnet Birgit Joos. Sie berichtet von der Arbeit des documenta archivs, das es mit einem im Fünf-Jahres-Turnus wechselnden Künstlerteam zu tun hat, welches nicht nach Kassel kommt, um sich an Aktenpläne zu halten. Privatisierung von Archivgut durch dessen Mitnahme in alle Welt und schwierige Bewertungsfragen (Archivale oder Kunstwerk?) bestimmen die tägliche Arbeit. Susanne Freund erläutert sodann das Curriculum des Fachbereichs Informationswissenschaften an der Fachhochschule Potsdam und setzt sich mit Problemen der Langzeitarchivierung, der Bereitstellung von Metadaten und dem Wandel des archivarischen Berufsbildes auseinander. Ute Klatt analysiert am Beispiel des Bildarchivs des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz die Authentizität von Reproduktionen, während Elke Bauer das Bildarchiv des Herder-Instituts Marburg vorstellt und darauf hinweist, dass die selektive Digitalisierung von Beständen eine Inwertsetzung darstellt, die mit der Entwertung anderer, im Analogzeitalter verbleibender Wissensbestände einhergeht. Anschließend berichtet Margit Ksoll-Marcon von den Bemühungen der staatlichen Archive, im Rahmen der Behördenbetreuung auf die Implementierung von Dokumentenmanagementsystemen hinzuwirken, die die Aktenmäßigkeit der Verwaltung auch im digitalen Zeitalter sichern sollen.
Die Sektion "'Verlust' und 'Lücke' als Kategorien historischer Authentizität" eröffnet Dietmar Schenk mit einer luziden Kritik an der "epistemologischen Naivität" (151) jenes positivistischen und bürokratiegläubigen Authentizitätsbegriffs, der die archivwissenschaftliche Diskussion um den Evidenzwert von Akten prägt. Sodann stehen zwei Nachlässe aus dem Archiv des Deutschen Museums München im Mittelpunkt. Wilhelm Füßl beschäftigt sich mit dem Nachlass des Physikers Ernst Mach (1838-1916) und akzentuiert die Problematik, dass Apparaturen und andere materiale Artefakte naturwissenschaftlicher Forschung von Archiven nur selten übernommen werden. Bei Claus Ludl geht es um den Physiker Gernot Zippe (1917-2018), dessen Nachlass womöglich vor Abgabe ans Archiv durch einen Geheimdienst oder den Arbeitgeber "bereinigt" wurde, da Zippe mit der Entwicklung von Geheimhaltungsvorschriften unterliegenden Zentrifugen befasst war.
Die Beiträge der dritten Sektion nehmen "Umbruchsammlungen" in den Blick. Peter Ulrich Weiß rekonstruiert die Geschichte Potsdamer Zentralarchive im Nationalsozialismus und in der DDR. Während Arkanpraktiken den Zugang zu Archivgut zu einer intransparenten und willkürlichen Angelegenheit machten, fanden ideologische Interventionen in beiden Diktaturen ihre Grenze in einem die Bereiche Ordnung, Erschließung und Überlieferungsbildung prägenden archivarischen Expertentum. Sodann befasst sich Kai Drewes mit der Sammlungstätigkeit des Bauhistorikers Kurt Junghanns an der Ost-Berliner Bauakademie, die vornehmlich auf Nachlässe von Architekten des Neuen Bauens zielte, wobei jedoch unklar ist, ob Junghanns der Aufbau eines forschungsbezogenen Archivs oder eines Architekturmuseums vorschwebte.
Michael Farrenkopf zeichnet am Beispiel des 1969 gegründeten Bergbau-Archivs Bochum den Bedeutungswandel von Archiven in der Geschichtswissenschaft nach. Der Impuls zur Gründung des Hauses war von Unternehmerseite ausgegangen, die vor dem Hintergrund des Strukturwandels eine Authentisierungsinstanz anstrebte. Im Laufe der 1970er Jahre kam es jedoch angesichts des Bedeutungsgewinns alltagsgeschichtlicher Fragestellungen zur aktiven Einwerbung von Vor- und Nachlässen aus dem wirtschaftsbürgerlichen Milieu. Die Lebenswelt der Arbeiterschaft blieb hier freilich unterrepräsentiert und findet heute eher in bergbaulichen Vereinssammlungen mit "wesentlich stärker subjektbezogener Authentizitätsdimension" (248) und diversen Oral-History-Projekten einen Anker. Der abschließende Beitrag Jürgen Bacias sensibilisiert für das ebenso heterogene wie wertvolle Erbe der Neuen Sozialen Bewegungen, dem auf Seiten der Freien Archive eine oftmals prekäre Finanzierungssituation gegenübersteht.
Ertragreich ist der vorliegende Band vor allem deshalb, weil ihm kein metaphorischer Archivbegriff zugrunde liegt, sondern die Frage nach beobachtbaren und deshalb der Historisierung zugänglichen Praktiken von Gedächtnisorganisationen. Sehr zu Recht verweisen die Herausgeber darauf, dass archivische und museale Authentisierungsoperationen der Inwertsetzung durch Nutzerinnen und Nutzer bedürfen. Aus meiner Sicht stellt sich die Frage, ob solche "empowering interactions" nicht schon dort beginnen, wo man von Lücken archivalischer Überlieferung spricht und damit mehr meint als ein von einer Weltkriegsbombe gerissenes Loch in einem vormals bestehenden Zusammenhang materialer Artefakte.
Was bei der Lektüre immer wieder aufscheint, ist die der klassischen Moderne verhaftete Überzeugung, es gäbe sie noch, jene eine große Erzählung, der Archive authentische Zuliefererdienste zu leisten hätten. Dabei verstand Foucault, der wiederholt zitiert wird, unter einer "Infragestellung des Dokuments" [1] doch gerade den expliziten Verzicht darauf, im Archiv nach der "Sprache einer jetzt zum Schweigen gebrachten Stimme" zu lauschen und vergilbtes Papier "als deren zerbrechliche, glücklicherweise aber entzifferbare Spur" zu betrachten. Ob eine Geschichtswissenschaft, die sich regelmäßig in staatlichem, zum Zweck der Dokumentation formaler Behördenkommunikation entstandenen Schriftgut auf die Suche nach "Ego-Dokumenten" begibt, diesem Anspruch gerecht wird? Beruht die viel zitierte Archivmacht nicht auch auf der partiellen Ohnmacht einer Forschung, die es in Anlehnung an postmoderne Subjektivierungsdiskurse an methodischer Strenge im Umgang mit ihren Quellen fehlen lässt? Wenn das Postulat der Systemtheorie zutrifft, wonach es Kommunikation nur im System für das System gibt, stellte es keine Überlieferungslücke dar, wenn Behördenakten weder informelle Kommunikation noch die Gefühlswelt der von administrativem Handeln betroffenen Umwelt dokumentieren. Unter dieser Voraussetzung wiese das Schriftgut des Bundeskanzleramtes auch keine Lücke auf, die durch materiale Artefakte Neuer Sozialer Bewegungen zu schließen wäre. Dann erzählten Quellen unterschiedlicher Provenienz schlicht und ergreifend andere Geschichten.
Anmerkung:
[1] Michel Foucault: Archäologie des Wissens, 19. Aufl., Frankfurt am Main 2020, 14.
Tobias Schenk