Josef Stern / James T. Robinson / Yonatan Shemesh (eds.): Maimonides Guide of the Perplexed in Translation. A History from the Thirteenth Century to the Twentieth, Chicago: University of Chicago Press 2019, VII + 481 S., 14 Tbl., ISBN 978-0-226-45763-5, EUR 42,00
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Nur wenige Werke der Philosophiegeschichte haben eine Wirkung weit über den Entstehungskontext und über Jahrhunderte hinweg gehabt. Eines dieser Werke ist der "Führer der Unschlüssigen" aus der Feder von Moshe ben Maimon, latino-gräzisiert Moses Maimonides (1138-1204). Entstanden in der vorletzten Dekade des 12. Jahrhunderts in Al-Fustat (heute Kairo) und geschrieben in Judäo-Arabisch wurde es seitdem sowohl im arabischen als auch im hebräischen und im lateinischen Sprachraum des Hoch- und Spätmittelalters im Original und in Übersetzung studiert und rezipiert; zudem sind seit der Frühneuzeit und bis in die Gegenwart hinein zahlreiche Übersetzungen in moderne Sprachen erfolgt und werden weiterhin produziert [1], die im philosophischen Diskurs weiterhin ausgelegt und weitergedacht werden. Der vorliegende Sammelband nimmt eine Reihe dieser mittelalterlichen bis neuzeitlichen Übertragungen in den Blick; dass dabei keine Vollständigkeit erlangt werden kann, liegt auf der Hand.
Der Band selbst ist in zwei sehr unterschiedlich umfangreiche Teile gegliedert: Im ersten Teil werden in elf Beiträgen ausgewählte Übertragungen und ihre Entstehungsbedingungen dargestellt, im zweiten, mit vier Beiträgen sehr viel kürzeren Teil werden Beispiele für die Wirkungsgeschichte einzelner Übertragungen dargestellt. [2] Die beiden Teile sind gerahmt durch eine Einleitung des einen Herausgebers Josef Stern, sowie eine Übersicht über Editionen und Übersetzungen, eine allgemeine Bibliografie sowie einen Namensindex.
James T. Robinson zeichnet detailliert nach, wie Samuel ibn Tibbon noch zu Lebzeiten des Verfassers eine Übersetzung ins Hebräische erstellte. Diese 1204 abgeschlossene Übertragung hat er 1213 einer Revision unterzogen. Die Darstellung Ibn Tibbons und seiner Übersetzungsprinzipien ist eine mustergültige Einführung in die Materie. Die sehr wortgetreue und von zahlreichen Arabismen geprägte Übertragung wurde einerseits schnell zum Standard innerhalb der hebräischen philosophischen Welt, aber andererseits forderte sie auch den Dichter Jehuda al-Charizi zu einer eigenen Übertragung heraus, die nur wenige Jahre später erschien. Raymond P. Scheindlin zeichnet dessen Leben und die Umstände der Übertragung nach und gibt eine Reihe von Beispielen für den Vergleich der Vorlage mit al-Charizis und Ibn Tibbons Übersetzungen.
Caterina Rigo trägt in einem sehr spekulativen Artikel wenig überzeugende, selektive Argumente für eine lateinische Übertragung im Umfeld von Hillel von Verona und des Dominikanerkonvents von Barcelona zusammen. Probleme derartiger Spekulationen, die ich bereits 2004 gesammelt habe [3] und die einer Antwort bedürfen, ignoriert sie.
Ein bemerkenswerter Beitrag von Luis M. Girón Negrón zur kastilischen Übertragung des "Führers der Unschlüssigen" aus der Feder des Pedro de Toledo (entstanden zwischen 1419 und 1432) rundet den mittelalterlichen Bereich des ersten Teils ab. Diese Übertragung wurde aus einer hebräischen Übertragung erstellt; Pedro nennt ihrer vier, hat sich aber wohl auf die beiden bekanntesten von Ibn Tibbon und Al-Charisi gestützt. Die Übertragung ihrerseits wurde von einem mittelalterlichen Glossator sachkundig annotiert. Girón Negrón gibt im Folgenden eine Vielzahl an Vergleichen der einzelnen Fassungen (arabisch / hebräische / lateinisch) und des Glossators mit der Übertragung selbst und zeigt so auch den hohen sprachlichen Standard dieser frühkastilischen Übertragung auf.
Der Beitrag von Paul B. Fenton eröffnet den Abschnitt zu modernen Übersetzungen und führt in die Epoche machende Edition und Übertragung Salomon Munks ein. Dieses Lebensprojekt Munks erschien nach jahrzehntelanger Vorarbeit zwischen 1856 und 1866. Fenton qualifiziert Munk in seiner Darstellung als zweiten Ibn Tibbon, weil dieser seine Textedition nicht allein auf ein arabisches Manuskript, sondern auch in Rückübersetzung auf die Ibn Tibbonsche Erstübertragung sowie Al-Charizis Konkurrenzübertragung stützte, und hebt zugleich hervor, dass Munk sich um eine Einbettung des maimonidischen Führers in die arabische Philosophie seiner Zeit bemühte.
Warren Zev Harvey führt in Michael Friedländers englische Erstübersetzung ein, die bis heute - wohl auch aus Copyright-Gründen - die wohl meistgenutzte Ausgabe ist. Friedländer hatte unter Übernahme von Teilübersetzungen von Hermann Gollancz und Joseph Abrahams 1881 bzw. 1885 eine annotierte englische Übersetzung vorgelegt. 1904 erschien eine um die Anmerkungen gekürzte und um sprachliche Erläuterungen erweiterte Ausgabe, die bis heute nachgedruckt wird.
Sarah Stroumsa stellt die andere englische Standardübertragung von Shlomo Pines vor, die eher für ein wissenschaftliches Fachpublikum verfasst zu sein scheint. Mit dieser 1963 erschienenen Übersetzung wurde, wie schon zuvor durch Munk, der Versuch unternommen, Maimonides mehr in der arabischen Philosophie seiner Zeit zu verankern. In einem knappen zweiten Beitrag zur Pinesschen Übertragung ergänzt Alfred L. Ivry stilistische Einwände und Übersetzungsalternativen.
Y. Tzvi Langermann würdigt in seinem Betrag die "moderne mittelalterliche" Übersetzung des aus dem Jemen stammenden, arabischen Muttersprachlers Rabbi Yosef Qafih, der 1972 eine neue hebräische Übertragung vorlegte, die sich auf die jemenitische Überlieferungstradition stützt, die ihrerseits in vielerlei Hinsicht näher an der maimonidischen Originalfassung zu sein scheint.
Eine seit Anfang der 1970er Jahre erstellte Übertragung in modernes Ivrit legte ab 1988 Michael Schwarz vor. Aviram Ravitzky widmet sich dieser 2002 abgeschlossenen Übersetzung und hebt neben der guten Verständlichkeit und Texttreue auch die Anmerkungen von Schwarz hervor, die ihrerseits einen wesentlichen Beitrag zur Forschung darstellen. Zudem gibt er zu ausgewählten Stellen einen Vergleich mit den Vorgängerübertragungen, um damit die Schwarzschen Übersetzungsprinzipien hervorzuheben.
Den ersten Teil des Sammelbands beschließt ein Beitrag von Steven Harvey, in dem verdeutlicht wird, wie philosophische Schlüsselbegriffe von verschiedenen Übersetzern in verschiedenen Sprachen eingeführt bzw. benutzt wurden, um den Gedankengang des Maimonides wiederzugeben.
Die vier Studien des zweiten Teils widmen sich verschiedenen Rezeptionsweisen des Maimonides in der (Philosophie-)Geschichte. Richard C. Taylor vergleicht ausgehend von Thomas von Aquinos Sentenzenkommentar (Teil 1, Distinctio 2, Quaestio 1, Artikel 3) dessen Verständnis von der Zuschreibung von Attributen an Gott mit Maimonides und Avicenna (Ibn Sina). Steven Nadler geht der Rezeption von Maimonides in der frühneuzeitlichen Literatur bis Spinoza nach. Kenneth Seeskin beleuchtet die Bedeutung der Übertragung von Pines in der zeitgenössischen (amerikanischen und israelischen) Philosophie. Frank Griffel schließlich widmet sich Pines' Kommentaren zu Maimonides und al-Ghazali.
Wie schon aus der Skizze des Inhalts deutlich wird, handelt es sich um überwiegend lesenswerte Beiträge. Allerdings sind an die Konzeption des Bands doch einige Nachfragen zu stellen: Insbesondere wird nicht deutlich, was das eigentliche Ziel des Bands ist: Geht es um eine Übersicht über die Übersetzungen des "Führers der Unschlüssigen"? Dann überrascht, dass die frühneuzeitlichen Übertragungen ins Italienische (Amadeo di Musetto, 1583) und Lateinische (Johannes Buxtorf, 1622/29) - letztere war sehr einflussreich - ebenso wenig in den Blick genommen werden wie beispielsweise die deutschen Übersetzungen aus dem Umfeld der "Wissenschaft des Judentums" (Simon Scheyer, 1838, Raphael Fürstenthal, 1839, M. E. Stern 1864; Adolph Weiss, 1923/24) oder die italienische von Mauro Zonta (2003/05). Die nicht ganz vollständige Übersicht über Übertragungen macht zudem neugierig, in welchen Kontext hinein beispielsweise die chinesische Übertragung von Youde Fu konzipiert wurde. Oder geht es den Herausgebern nach dem Einstieg in die mittelalterlichen Übertragungen v.a. um den israelisch-amerikanischen Raum? Dann hätte es der Darstellung der lateinischen und kastilischen Übersetzungen nicht bedurft. Auch wird die Funktion des zweiten Teils nicht deutlich: Für eine Wirkungsgeschichte ist der Teil sehr dünn; für eine Bewertung der Pinesschen Übertragung fragt man sich nach der Funktion der anderen beiden Beiträge zum Aquinaten und zu Spinoza.
Dessen ungeachtet handelt es sich bei dem Sammelband um einen wertvollen Beitrag zur Maimonidesforschung.
Anmerkungen:
[1] Über die im Buch besprochenen und im ausführlichen Literaturverzeichnis genannten Übertragungen wäre z.B. auf die Übersetzung in das brasilianische Portugiesisch durch Uri Lam (São Paulo 2004; nur Teile I und II), sowie die im Entstehen begriffene niederländische Übersetzung durch Wout Jac. van Bekkum, Groningen, hinzuweisen.
[2] Zu diesem Komplex erschien 2004 ein überblickartiger Sammelband, der von den Herausgebern und Autoren jedoch nicht zur Kenntnis genommen wird; vgl. G.K. Hasselhoff / Otfried Fraisse (eds.): Moses Maimonides (1138-1204). His Religious, Scientific, and Philosophical Wirkungsgeschichte in Different Cultural Contexts (Ex Oriente Lux: Rezeptionen und Exegesen als Traditionskritik, 4), Würzburg 2004 (dazu: http://www.sehepunkte.de/2007/03/10738.html ).
[3] Vgl. G.K. Hasselhoff: The Reception of Maimonides in the Latin World. The Evidence of the Latin Translations in the 13th to 15th Century, in: Materia Giudaica 6 (2001), 258-280, hier 264-270; ders., Dicit Rabbi Moyses: Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis 15. Jahrhundert, Würzburg 2004, 2. erw. Aufl. 2005, 122-125.
Görge K. Hasselhoff