Wolfgang Ullrich: Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie (= Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek; Bd. 90), Berlin: Wagenbach 2022, 187 S., 58 Abb., ISBN 978-3-8031-5190-2, EUR 22,00
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Das Genre, mit dem Wolfgang Ullrich seit über 20 Jahren den Buchmarkt bedient, könnte man vielleicht mit dem Begriff des Großessays beschreiben. Inhaltlich lässt es sich als philosophisch unterfütterte Kunstsoziologie einordnen, in der die Kunst zu den Rändern hin deutlich unscharf wird und im Konsum mündet. Im Vordergrund steht dabei ein künstlerisches Geschehen, das seine prägenden Einflüsse aus der Epoche nach dem Fall der Mauer bezieht, dabei aber immer wieder vielfältig auch in seine historische Tiefendimension gerückt wird. Es dürfte kaum übertrieben sein, in diesen Büchern einige der wichtigsten Beiträge zur Rolle der Kunst in der Gegenwart zu erkennen.
Hierzu gehört auch der an dieser Stelle zu besprechende Band über die Kunst nach dem Ende der Autonomie. Autonom ist für Ullrich die Kunst der Moderne, die ihre funktionalen Bedingungen abgestreift hat und in erster Linie der Ausbildung ihrer eigenen Logik gewidmet ist, also cum grano salis die Kunst der letzten 250 Jahre. Sie definiert sich als eine Form undurchdringlicher Rätselhaftigkeit, angesiedelt weit weg von den Fährnissen des Alltags, und sie bezieht ihr Selbstbewusstsein aus der jeweils radikalen Zurückweisung vorhergehender künstlerischer Modelle. Diese autonome Kunst, deren Erneuerungsideologie im Übrigen auch dadurch erlahmt ist, dass schlicht und ergreifend alles schon durchexerziert wurde, ist zuletzt von einer im wahrsten Sinne des Wortes postmodernen Kunstpraxis abgelöst worden, um die es hier geht.
Eine solche Praxis verzichtet auf den Heroismus der Autonomie, die in der völlig unabhängigen Setzung ihr Glück entdeckt und versenkt sich lustvoll in die Gegebenheiten der Wirklichkeit. Sie hat keinerlei Abgrenzungsprobleme zum einstmals perhorreszierten Kommerz und Konsum, ja ihre Kommerzialisierungseignung und Konsumnähe ist geradezu Ziel dieser Kunst. Daher die auf den ersten Blick eigentümliche Formulierung des Verfassers, als Kunst gelte, was zugleich nicht Kunst ist. (43)
Einen Agenten der Wandlung erkennt Ullrich in den sozialen Medien des Internets. Arbeiteten die Künstler*innen der Autonomie in einem abstrakten Raum gleichsam unmittelbar zu Gott, so geraten sie im sozialen Medium in direkten Kontakt mit dem Publikum, auf dessen je individuelle Bedürfnisse einzugehen ist. Eine tendenzielle Profanisierung des künstlerischen Zieles ist damit schon fast zwangsläufig. Denn schließlich gehört der Wille zum Verkaufen, vorher unter dem Deckmantel des Universellen verborgen, hier explizit zum Geschäft dazu. Einerseits kann das dazu führen, dass Kunst hiermit zu einem Lebensbegleiter, ja zum Spielzeug wird, andererseits bleibt auch das Politische nicht außen vor, wird aber in möglichst leicht verdauliche Formen verpackt. Eingewendet werden kann hier vielleicht, dass eine Kunst, die sich unter die Fittiche der sozialen Medien begibt, das künstlerische Feld wohl nicht in seiner Ganzheit prägt.
Einen weiteren Agenten der Transformation erkennt der Autor dann naheliegenderweise in der Globalisierung bzw. der Zentrumsverlagerung weg aus dem europäischen Raum. Was sollten nicht-europäische Künstler*innen mit Autonomievorstellungen und ihrer Herkunft aus der europäischen Ästhetik zu tun haben? Stattdessen greifen sie teilweise durchaus auch wieder auf animistische Vorstellungen zurück, die man in aufklärerischer Tradition eher für obsolet halten würde und wenden sich kooperativen Entstehungsformen von Kunst zu, die sich von heroischen Vorstellungen der Autor*innenschaft abwenden, welche noch in der klassischen Moderne vorherrschten.
Die Unterscheidung von autonomer und postautonomer Kunst ist natürlich idealtypisch, und man wird sie an vielen Stellen kritisieren können, wobei auch Ullrich immer wieder auf Überschneidungen hinweist. Die Avantgarde etwa, die als Konzept in dem Buch allerdings kaum vorkommt, hatte zumindest in der Bürgerschen Vorstellung ja auch schon das Ziel, Autonomie zu destruieren und die Kunst ins Leben zurückzuführen. [1] Das ändert aber wenig an der grundsätzlichen Erklärungskraft dieser Idealtypik.
Wie eigentlich alles, was Ullrich schreibt, trägt auch dieses Buch entschieden zur Klärung des Status der Bildenden Kunst in der Gegenwart bei. Zur documenta fifteen mit ihrem deutlich antiwestlichen, politisch aufgeladenen und mit Autonomie noch nicht mal von Ferne befassten Kunstbegriff erscheint es gerade rechtzeitig und könnte geradezu als deren Reiseführer begriffen werden - wenn man jetzt einmal von der Antisemitismus-Problematik absieht, die alles andere überdeckt. Dabei ist Ullrichs Zugang zur Kunst nach dem Ende der Autonomie durchaus von Sympathie geprägt, was ihn von den meisten kennerschaftlichen Kommentaren der Gegenwart unterscheidet, etwa auch von Bazon Brocks denkbar aggressiv vorgetragener Diatribe im Deutschlandfunk. [2] Ullrich erkennt die ideologische Bindung des Autonomiebegriffs, seine Neigung hin zu einem westlichen Machtgestus, und er verortet ihn - nicht ausführlich - in einer zutiefst bürgerlichen Kunstanschauung. Auch da, wo er in den Augen mancher Skeptiker*innen vielleicht über das Ziel hinausschießt und zugunsten einer meinungsstarken Position einmal "fünfe gerade sein lässt", sind seine Ausführungen ungemein anregend und erhellend.
Anmerkungen:
[1] Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974.
[2] https://srv.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.3265.de.html?mdm:audio_id=dira_DLF_c316cef2 (21.6.2022).
Hubertus Kohle