Rezension über:

Shulamit Volkov: Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte. Aus dem Englischen von Ulla Höber, München: C.H.Beck 2022, 336 S., ISBN 978-3-406-78171-1, EUR 29,95
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Rezension von:
Sebastian Voigt
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Voigt: Rezension von: Shulamit Volkov: Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte. Aus dem Englischen von Ulla Höber, München: C.H.Beck 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8 [15.07.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/07/37035.html


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Shulamit Volkov: Deutschland aus jüdischer Sicht

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Eine weitere deutsche Geschichte? Nein, das neue Buch der israelischen Historikerin Shulamit Volkov bietet nicht einfach einen Überblick über die Entwicklungen seit dem späten 18. Jahrhundert. Sie nimmt vielmehr eine außergewöhnliche Perspektive ein und beleuchtet die Zeit konsequent aus der jüdischen Sicht. Die Juden waren zwar zahlenmäßig eine kleine, aber dennoch lange Zeit die bedeutendste Minderheit in Deutschland. Die jüdische Geschichte dient Shulamit Volkov demnach, ganz im Sinne Dan Diners, als epistemologische Sonde, um einen tiefen Blick auf die allgemeingeschichtlichen Tendenzen zu werfen. Auch die deutsche Geschichte erscheint dadurch in einer spezifischen, geradezu "singulären Perspektive". (15) Die Autorin lässt immer wieder jüdische Protagonisten zu Wort kommen und beschreibt ihre Situation und ihre Sichtweise. Dadurch gelingt es ihr, andere Aspekte der deutschen Geschichte zu fokussieren, die in sonstigen Überblickwerken nur marginal oder gar nicht vorkommen. Selbstredend tauchen dabei der Antisemitismus und die Ausgrenzung der Juden aus der Mehrheitsgesellschaft durchgängig auf. Dennoch hat Shulamit Volkov aber kein Buch über die Geschichte der Judenfeindschaft geschrieben. Die wechselvolle Geschichte der Juden in Deutschland ist auch die Geschichte ihrer Emanzipation, ihres Aufstiegs, ihres Scheiterns und ihres Neuanfangs.

Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte mit jeweils drei Unterkapiteln. Es beginnt mit der Aufklärung und der weltpolitischen Zäsur, der Französischen Revolution. In Preußen spielte der 1729 in Dessau geborene Moses Mendelssohn hierbei eine wichtige Rolle. Ebenso wie Immanuel Kant suchte er nach Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung, ohne das herrschende Feudalregime zu offen zu kritisieren. Als Vertreter der Haskala, der jüdischen Aufklärung, gewann er seit den 1760er Jahren zunehmend an Renommee. Shulamit Volkov beschreibt ihn als zutiefst optimistischen Philosophen, "doch er wurde bitter enttäuscht". (31) Moses Mendelssohn beharrte darauf, Jude zu bleiben, also in einem partikularen Glauben zu verharren, obwohl er die Universalität der Menschenrechte und die Gleichstellung aller Bürger propagierte. Sie war für ihn allerdings keine Gratifikation, die man sich durch Wohlverhalten verdienen müsse. Er machte die Toleranz zu seinem Hauptthema, musste aber erkennen, dass auch die Aufklärung den jahrtausendealten Judenhass nicht überwand. Viele Aufklärer erwiesen sich vielmehr als fanatische Antisemiten.

Die Veröffentlichung von Christian Wilhelm Dohms Buch über die bürgerliche Verbesserung der Juden 1781 heizte die Diskussion über ihre Stellung in der Gesellschaft weiter an. Die Entwicklung nach dem Wiener Kongress 1815 konterkarierte die zaghaften preußischen Reformen. Die autokratischen Verhältnisse verfestigten sich erneut. Die verschlossenen Türen der Gesellschaft öffneten sich für die Juden nur langsam und nie ganz, wie Shulamit Volkov am Beispiel von Rahel Varnhagen, Eduard Gans und Heinrich Heine darlegt.

Das zweite Kapitel beschreibt zunächst die Ambivalenz der Revolution von 1848. Viele Juden waren ihre begeisterten und aktiven Unterstützer, obwohl sich in der Frühphase der Revolution zahlreiche judenfeindliche Ausschreitungen zutrugen. Ferner erwiesen sich nicht wenige Liberale als vehemente Judenhasser und entwickelten sich in den kommenden Jahrzehnten zu führenden Antisemiten. Wilhelm Marr stellt hierfür nur das prominenteste Beispiel dar. Allen Widrigkeiten zum Trotz nutzten die Juden die sich bietenden Gelegenheiten zum gesellschaftlichen Aufstieg, wobei ihrem Bildungsdrang eine große Bedeutung zukam. Die in den 1860er Jahren alles dominierende nationale Frage stellte sich aus jüdischer Sicht etwas anders, da sie häufig über Verbindungen und Netzwerke verfügten, die den einzelnen Nationalstaat transzendierten. Die Mehrheit unterstützte deshalb auch eine großdeutsche Lösung. Nach Gründung des kleindeutschen Reiches unter preußischer Vorherrschaft fanden sie sich nur langsam mit der neuen Situation ab: "Ihr Schmerz war derselbe wie der aller Deutschen, wenn sie einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit akzeptieren mussten. Wie wir schon zuvor gesehen haben, bringt der Fall der Juden die Schwierigkeiten, die Vielschichtigkeit und die Ambivalenz aller ans Licht". (146)

Das folgende Kapitel beschreibt die Zeit bis zum Ende der Weimarer Republik. Der soziale Aufstieg der Juden vollzog sich trotz vieler Widerstände, einem grassierenden Antisemitismus und einem stark von Richard Wagner geprägten Erlösungsglauben der deutschen Nation. Obwohl sich die meisten Juden stark mit Deutschland und seiner Kultur identifizierten und im Ersten Weltkrieg die deutschen Kriegsziele unterstützten, wuchs die Skepsis gegenüber ihrer Loyalität. Die mitten im Krieg durchgeführte "Judenzählung" stellte für viele Juden einen Schock dar. Shulamit Volkov zitiert den Pädagogen Ernst Simon: "Der Traum von der Gemeinsamkeit war dahin, mit einem furchtbaren Schlage tat sich vor uns zum andern Mal die tiefe, nie verschwundene Kluft auf..." (188) Dennoch empfanden Juden wie der Reederei-Unternehmer Albert Ballin oder Walther Rathenau die deutsche Kriegsniederlage als Katastrophe. Die 1918/19 gegründete Republik ermöglichte aber allen einen Neuanfang, den vor allem die Juden mit großer Begeisterung nutzten. Sie stiegen in politische Ämter auf und reüssierten im Kulturleben. Ihr Ende war für sie deshalb umso schmerzvoller.

Das NS-Regime trieb viele Juden ins Exil. Sie verließen das Land keineswegs leichtfertig: "Deutschland war seit Langem ihre Heimat, und man verlässt die Heimat nicht, nicht einmal in schweren Zeiten". (226) Den Holocaust behandelt Shulamit Volkov vor allem anhand der vorliegenden Historiographie. Abschließend geht sie auf den Wiederaufbau jüdischen Lebens in der Bundesrepublik ein, während dieser in der DDR nur in einem kurzen Abschnitt thematisiert wird. Absurderweise blieben viele Displaced Persons, die die Konzentrationslager überlebt hatten, in dem neuen westdeutschen Staat. Außerdem flohen viele weitere Überlebende vor den als antizionistisch getarnten, judenfeindlichen Kampagnen in den realsozialistischen Staaten. Sie bauten die jüdischen Gemeinden wieder auf und etablierten ein jüdisches Leben in dem postfaschistischen Land. Abgesehen von wenigen exponierten Akteuren wie Fritz Bauer hielten sie sich weitgehend aus dem politischen Leben heraus. Diese Zurückhaltung gaben die deutschen Juden erst in den 1980er Jahren auf. Die Besetzung der Bühne anlässlich der geplanten Aufführung des Stücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Maria Fassbinder 1985 in Frankfurt durch Mitglieder der jüdischen Gemeinde markiert hierfür eine Initialzündung. Diesen Aktivismus und das Selbstbewusstsein dämpften die rechtsradikalen Pogrome und das neu erwachte Nationalgefühl nach der Wiedervereinigung. Die Enttäuschung über diese Entwicklung brachte etwa Ignatz Bubis gegen Ende seines Lebens deutlich zum Ausdruck. Shulamit Volkov schließt mit einem vielleicht etwas zu optimistischen Ausblick auf die Situation im heutigen Deutschland. "Die meisten düsteren Prophezeiungen der Jahre 1989/90 haben sich aber nicht bewahrheitet". (287) Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust hätten nicht abgenommen. Im Gegenteil habe die Goldhagen-Kontroverse das große Interesse eines breiten Publikums an dieser Thematik gezeigt. Trotz der Intervention Martin Walsers sei das Holocaust-Mahnmal in Berlin errichtet worden, und der massive Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion habe das jüdische Leben in Deutschland belebt und verändert. Deshalb schließt sie ihren mit "Berlin ist nicht Weimar" überschriebenen Epilog wie folgt: "Die Errungenschaften der Vergangenheit sind nicht völlig verloren, und der Blick in die Zukunft eröffnet Raum für Optimismus. Diesen Optimismus auch in Zeiten der neuen und manchmal auch der offensichtlich alten Gefahren zu bewahren, ist nicht einfach. Alte und neue Beziehungen umzugestalten, sie zu stärken und ihnen neue Bedeutung zu verleihen [,] erfordert stetige Bemühungen, aber es scheint trotz allem nicht aussichtslos". (306)

Das Buch bietet eine erkenntnisreiche Perspektive auf die deutsche Geschichte seit der Aufklärung. Aus Sicht einer diskriminierten Minderheit erscheinen viele Aspekte in einem anderen Licht. Die Lektüre unterstreicht ferner, dass der Umgang der Gesellschaft mit den Juden über die Jahrhunderte einen bedeutenden Gradmesser für ihre Zivilisiertheit und Liberalität darstellt - damals wie heute.

Sebastian Voigt