Detlef Siegfried: Bogensee. Weltrevolution in der DDR 1961-1989, Göttingen: Wallstein 2021, 296 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5011-3, EUR 28,00
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Eine gute Autostunde nördlich von Berlin liegt der Bogensee. Dort hatte sich Joseph Goebbels 1939 einen Landsitz bauen lassen. Seit 1946 wurde dieser von der Freien Deutschen Jugend der DDR (FDJ) als Schulungsheim genutzt. Ab 1951 begann in direkter Nachbarschaft die Erweiterung der Anlage durch den Neubau eines Ensembles im stalinistischen Zuckerbäckerstil, das aus einem Lehrgebäude, einem Kulturhaus sowie mehreren Wohngebäuden bestand. Seit 1958 nahmen an der dort eingerichteten und nach dem einzigen Präsidenten der DDR benannten Jugendhochschule "Wilhelm Pieck" (JHS) junge Menschen aus der DDR, aber auch aus der ganzen Welt zeitgleich an Jahreskursen teil. Bis 1989 wurden dort insgesamt 3.500 internationale Studenten im Marxismus-Leninismus aus- und weitergebildet. Es handelte sich dabei um keine universitäre Ausbildung im engeren Sinne, sondern um die höchste Bildungsstätte der FDJ, also um eine politische Schule. Junge Menschen, zumeist Anfang 20, sollten eine Fachschule für Gesellschaftswissenschaften besuchen, deren Abschluss für ein entsprechendes Hochschulstudium qualifizierte. FDJ-Sekretäre wurden an der JHS für hauptamtliche Tätigkeiten in der DDR ausgebildet. Funktionäre ausländischer, zumeist kommunistischer Organisationen, die nicht über die entsprechenden Schulungsmöglichkeiten verfügten, wurden mit Grundwissen in marxistischer Theorie ausgestattet.
Die Motivation Detlef Siegfrieds, ein Buch über die internationalen Begegnungen an diesem Ort zu schreiben, war biographischer Natur. Siegfried hatte 1983/84 als Mitglied der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), dem Jugendverband der westdeutschen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), im Alter von 24 Jahren einen Jahreslehrgang an der JHS absolviert. Zwischen 1961 und 1989 hatten insgesamt 165 Studierende der SDAJ die Einrichtung besucht. Westdeutsche stellten damit nach dem Demokratischen Jugendverband Finnlands (189 Studierende) die zweitgrößte internationale Teilnehmergruppe. Auf Platz drei lag die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Dänemarks (DKU) mit insgesamt 115 Studierenden. Der letztgenannten Gruppe widmet Siegfried seine besondere Aufmerksamkeit. Als Professor für Geschichte an der Universität Kopenhagen mit einem Schwerpunkt für deutsch-dänische Beziehungen nutzte Siegfried für seine Darstellungen insbesondere die überlieferten Akten der DKU, darüber hinaus auch Quellen der Stiftung Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO), wo die Akten des Zentralrats der FDJ sowie der Jugendhochschule selbst verwahrt werden. Zudem griff Siegfried auf aktuelle Literatur zur trans- und internationalen Geschichte der DDR sowie zur Globalgeschichte des Kommunismus zurück, um seine Darstellungen entsprechend einzuordnen. Seiner biographischen Bezüge ist sich Siegfried durchaus bewusst und er betont im Buch, dass es ihm nicht darum geht, seine "eigene Involvierung auszublenden". Vielmehr beschreibt er das Werk betont als "Forschung mit autobiographischen Einsprengseln" (9).
Der Autor nennt als ein Ziel des Buches die Absicht, Spannungen "zwischen Formierungsabsicht von oben und Subjektivität der Studierenden genauer herauszuarbeiten" (21), d.h. Herrschaft als Aushandlungsprozess zu analysieren. Ein Nebeneffekt dieser Darstellung bestand zudem im Ansatz, "die Betrachtung der DDR-Geschichte von ihrer nach wie vor überwiegenden Fixierung auf den deutsch-deutschen, also den rein nationalgeschichtlichen Zusammenhang gelöst und in einen internationalen Rahmen gespannt" zu untersuchen (10).
Die Gliederung des Buches erfolgt nicht in erster Linie chronologisch, sondern sachthematisch. Das letzte Kapitel widmet sich dann noch dem Ende der JHS im Zuge der von Gorbatschow angestoßenen Reformpolitik und den sich daraus ergebenden Problemen am Bogensee, wo Reformdiskussionen von der Leitungsebene weitgehend verhindert wurden.
Siegfried beschreibt die Einrichtung als einen der wenigen Orte, an dem junge DDR-Bürger in dieser Größenordnung ihren Alltag mit Jugendlichen aus aller Welt verbringen konnten. Für ihn war die JHS ein "Raum der politischen Diskussion, von Anpassung und Kritik gleichermaßen, des kulturellen Aufeinanderprallens von West und Ost, Nord und Süd im globalen Maßstab, von Liebe und Sexualität über Grenzen hinweg" (7). Als "bedeutende Schnittstelle internationaler Begegnungen" innerhalb der kommunistischen Weltbewegung sei die JHS demnach auch ein Portal einer alternativen Globalisierung und eine Schnittstelle des Kulturtransfers (35) gewesen. Im Verlauf der Jahrzehnte bestand jedoch die wichtigste Erfahrung der Schulaufenthalte an der JHS in zunehmendem Maße weniger im Studium oder im Kennenlernen des realen Sozialismus, sondern in der Erfahrung der internationalen Gemeinschaft der "Revolutionäre" (265).
Detlef Siegfrieds Darstellung ermöglicht intime Einblicke in Lebensrealitäten junger Menschen im Kalten Krieg und verdeutlicht Ideale und Motivationen der Lehrgangsteilnehmenden. Der Autor zeigt die unterschiedlichen Wertvorstellungen innerhalb kommunistisch geprägter Biographien auf. Dabei verdeutlicht er die Herausforderungen von Gruppenkonstellationen im Hinblick auf Erwartungshaltungen, Lernanforderungen, Freizeitgestaltungen, den Aufbau von Freundschaften, aber auch die Entstehung von Liebesbeziehungen und den daraus resultierenden Fragen der "Sexualmoral" (191) bis hin zu erzwungenen Lehrgangsabbrüchen aufgrund von Schwangerschaften.
Marginal zu kritisieren ist, dass hier und da schematische Überblicksdarstellungen, Tabellen und Fotos der Anlagen sowie von Schulungsräumen die JHS und deren Funktionsweise etwas anschaulicher gemacht hätten. Dem Leser bleibt so überlassen, Informationen etwa über das Leitungspersonal aus den jeweiligen inhaltlichen Kontexten herauszulesen, wobei der Autor betont, dass ein großer Teil der Forschung zu den Strukturen, zur Lehre und zum Alltag des "internationalen Lehrgangs" erst noch geleistet werden müsste.
Herausgekommen ist dennoch ein atmosphärisch dichtes und abwechslungsreich geschriebenes Buch, das einen Beitrag zur Verortung der DDR als Sozialisationsort im transnationalen und internationalen Kontext bietet. Genau hier könnten zukünftige, vergleichende Untersuchungen etwa im Hinblick auf die Parteischule der SED in Berlin oder die Komsomol-Hochschule in Moskau anschließen.
Wolf-Rüdiger Knoll