Rezension über:

Silvia Gaetti (Hg.): Cultural Affairs. Kunst ohne Grenzen, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2021, 176 S., Illus., ISBN 978-3-422-98653-4, EUR 29,00
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Rezension von:
Wibke Schrape
Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Anna K. Grasskamp
Empfohlene Zitierweise:
Wibke Schrape: Rezension von: Silvia Gaetti (Hg.): Cultural Affairs. Kunst ohne Grenzen, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 6 [15.06.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/06/36232.html


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Silvia Gaetti (Hg.): Cultural Affairs

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Während der transkulturelle Turn in den Geisteswissenschaften längst den Zenit überschritten hat, wirft ein Blick in Museen die Frage auf, ob die in Exzellenzclustern, Graduiertenkollegen und DFG-Forschungsgruppen geführten Debatten um Transkulturalität, Multiperspektivität, Diversität und Hybridität in Kunst und Kultur über wenige Ausstellungsprojekte hinaus Eingang gefunden haben in das Sammel- und Ausstellungswesen von Museen. Agieren Kunst(gewerbe)museen heute als transkulturelle Verhandlungsräume in postmigrantischen Gesellschaften, erweitern den bislang eurozentrischen Kanon und vermitteln Kunst ohne Grenzen in die breite Öffentlichkeit? So wünschenswert dies ist, ist es leider keineswegs selbstverständlich. Dass der Weg zu einem grundsätzlich transkulturell agierenden Museum notwendig, bisweilen aber auch unbequem ist und offensichtlich nicht nur eines gesellschaftlichen, sondern auch museumsinternen Transformationsprozesses bedarf, wird beim Lesen des Vorwortes von Direktor Olaf Thormann zu dem Ausstellungskatalog Cultural Affairs. Kunst ohne Grenzen deutlich. Man kann ihm und dem GRASSI Museum für Angewandte Kunst in Leipzig (kurz GRASSI) nur gratulieren, mitten in der Corona-Krise und der damit einhergehenden Grenzschließungen eine Sonderausstellung unter dem Aspekt Kunst ohne Grenzen realisiert zu haben. Federführend bei der Ausstellung und dem dazugehörigen Katalog ist Silvia Gaetti, Kuratorin für Asiatische Kunst am GRASSI. Sie bringt neben ihrer Expertise als Kuratorin am GRASSI und zuvor dem Ethnologischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin eine grenzüberschreitende Ausbildung in Sinologie und Kunstgeschichte sowie World Art Studies an Universitäten in Venedig, Leiden und Beijing mit, welche eine ideale Grundlage bilden, um akademische Diskurse um Transkulturalität erfolgreich in das Projekt einzubringen und nachhaltig in der Museumspraxis zu verankern.

Wesentlich für den Erfolg des zweisprachigen Kataloges (deutsch und englisch) ist, dass neben der Vorstellung der wichtigsten Exponate und ihrer Gestalter*innen (Katalogteil, 92-173) und einer gelungenen Einführung von Silvia Gaetti (10-17), vier weitere Expert*innen für transkulturelles Design und Museumspraxis zu Wort kommen. Die einzelnen Beiträge widmen sich wichtigen Themen und Werkgruppen, welche Ausstellung und Katalog nicht untergliedern, sondern als Diskurs-, Wissens- und Materialstränge durchziehen. So kontextualisiert Elge Gaugele in ihrem Aufsatz "Über zeitgenössische Mode, Migration und die Bedingungen der postmigrantischen Gesellschaft" (20-31) zentrale Mode-Exponate der Ausstellung unter Aspekten von Postmigration, Translokation von Designer*innen, grenzüberschreitenden Designkollektiven, der Frage kultureller Aneignung sowie neokolonialen Logiken und Ökonomien von Mode.

Kerstin Pinther beleuchtet in ihrem Beitrag "Migration Matters: Transkulturelle Objekte und Designtheorie" (32-47) in erster Linie die Erweiterung des Designbegriffs in einer sich herausbildenden globalen Designgeschichte mit Blick auf afrikanisches und afrikanisch-europäisches Design. Ihre Beispiele, die überzeugend auch (Kunst)handwerk als eine mögliche Spielart von zeitgenössischem Design und die elementare Bedeutung von Materialität hervorheben, stammen überwiegend aus den Bereichen Textil und Keramik. Gerade die Keramik bildet dabei aus dem Sammelfokus des GRASSI heraus auch in Ausstellung und Katalog einen deutlichen Schwerpunkt. Bedauerlich ist, dass in diesem Aufsatz zwei Abbildungen im Text erwähnt werden und neugierig machen, im Layout aber abhandengekommen sind.

Vanessa de Gruijter widmet sich in ihrem Aufsatz "Dekolonisierung der zeitgenössischen Schmuckkunst" (48-63) einer weiteren, in Ausstellung und Katalog stark vertretenen Objektgruppe. Sie prangert wie auch die anderen Autor*innen zu Recht die mangelnde Diversität im zeitgenössischen Design an. Zudem hinterfragt sie die doppelte Negation nicht-westlicher Schmucktraditionen: Zum einen erfahren außereuropäische Schmuckgestalter*innen nicht genügend Wertschätzung. Zum anderen bildet außereuropäischer historischer Schmuck in Museen für hiesige Schmuckgestalter*innen eine Quelle der Inspiration, ohne dass deren kolonialen Bezüge hinterfragt und genuinen Kontexte berücksichtigt werden. Hier wie auch an anderen Stellen kommt unweigerlich die Frage auf, wo wertschätzende Inspiration endet und kulturelle Aneignung beginnt. Rechtfertigt allein die Herkunft oder Vorfahren in anderen Kulturen die Auseinandersetzung mit eben diesen Kulturen? Eine grenzenlose Kunst wäre mit einer solchen Einschränkung entsprechend der persönlichen Herkunft nur sehr eingeschränkt möglich. Es bedarf aber offensichtlich sowohl einer kritischeren Auseinandersetzung mit den eigenen Gestaltungsweisen, Inspirationsquellen und musealen Praktiken als auch einer generellen Ausweitung des Kunst- und Gestaltungskanons in Ausstellungen und Sammlungen.

Diese Frage nach einer Museumspraxis, welche einer pluralen Gesellschaft gerecht wird, ist Ausgangspunkt für Jadwiga Kamolas Aufsatz "Prolegomena zu einer Museumspraxis der Liebe" (64-77). Der Aufsatz bildet gewissermaßen ein Manifest, das dort ansetzt, wo eine Ausstellung notgedrungen endet: bei der Überführung eines Projektes in den Museumsalltag. Jadwiga Kamola kritisiert den historisch gewachsenen Überbau der heutigen Museumslandschaft, der aus einer inzwischen überholten Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts entstand. Ihr fehlt bei Museen allgemein (da differenziert die Autorin nicht) die Umsetzung einer transkulturellen Kunstgeschichte, welche einer postmigrantischen Gesellschaft wie Deutschland gerecht wird und das eigene koloniale Erbe aufarbeitet. Gleichwohl ich alle Kritikpunkte und allen voran das Problem mangelnder Diversität beim Museumspersonal teile, frage ich mich, ob wir nicht längst über Prolegomena zum Thema hinaus sind. Die hier beschriebene Museumspraxis der Liebe stellt für mich in Hinblick auf die Forderungen nach Objektbiografien, Vielstimmigkeit, verständlichen und mehrsprachigen Ausstellungstexten, Erweiterung des Kanons und Partizipation eher die Basis für zeitgenössische Museumsarbeit als ein zukunftweisendes Ziel dar. Die Strategien sind durchaus klar, schwieriger gestaltet sich die konsequente Umsetzung dieser Museumspraxis über Projekte, Labs und Sonderausstellungen hinaus im Ausbau und Umgang mit Sammlungen und Akteur*innen sowie der Transformation von Museen zu Dritten Orten, die digital und lokal zur Wissens- und Kulturallmende beitragen.

Zu dieser zeitgemäßen Museumspraxis gehören selbstverständlich neben Vielstimmigkeit und einem transkulturellen Grundverständnis auch Selbstreflexion. Stärker als im Katalog ist dies für mich in der Ausstellung selbst umgesetzt. Die einzelnen Kapitel "Globale Verflechtungen", "Transkulturelle Begegnungen" und "Die Welt in Bewegung" setzen sich nicht klar voneinander ab. In allen Werken geht es um Grenzüberschreitungen, die mal von den Gestalter*innen, mal von den Motiven, mal in Form von kultureller Aneignung oder in kollaborativen Teams erfolgen und in Ausstellung und Katalog durchgehend einer sprachlichen Erklärung bedürfen. Demzufolge reiht sich trotz der Untergliederung letztlich eine individuelle Grenzüberschreitung an die nächste, ohne dass daraus übergeordnete Narrative entwickelt werden. Gleichzeitig liegt aber auch genau in diesen individuellen Blickweisen die Stärke des Projektes: die transkulturellen Netzwerke entfalten sich in den informativen Texten zu den einzelnen Werken und Künstler*innen. Viele Positionen wie die grafische Gestaltung von Dona Abboud (siehe Katalogcover), Studio Formafantasma, Jojo Gronostay und vor allem auch den Kollaborationsprojekten rund um die Ausstellung (MeYouWeDo, In the Spirit of Mizuhiki) und die textile Mitmachstation begeistern. Wäre da ein übergeordnetes Narrativ über die grundsätzliche Vernetzung über Grenzen hinaus überhaupt sinnvoll? Oder braucht es nicht ganz andere Fragen wie z.B.: "Wie können historische und aktuelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse thematisiert werden, ohne dabei Künstler*innen damit zu 'labeln'?" und "Wie kann die Ausstellung die Zwischenräume, die Mehrdeutigkeit und die Widersprüche einer pluralen Gesellschaft wiedergeben?" Ohne darauf direkt Antworten zu geben, präsentiert Silvia Gaetti diese und zehn weitere Fragen neben den Kapitelüberschriften in der Ausstellung und gewährt den Besucher*innen damit Einblick in ihre kuratorische Herangehensweise. Dieses Offenlegen der drängendsten Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt, ist eine herausragende Stärke von Cultural Affairs. Kunst ohne Grenzen. Ein wesentlicher Schritt weg vom "Labeln" wäre, die Sammlung und die Arbeit mit Kooperationspartner*innen konsequent zu erweitern, nicht nur bei transkulturellen Ausstellungen, sondern bei allen Sammlungs- und Ausstellungsaktivitäten. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist Silvia Gaetti mit dieser Ausstellung und dem Katalog gelungen. Für die Ausstellung wurden zahlreiche Exponate erworben und wirken im GRASSI weiter. Bis eine transkulturelle Museumspraxis aber Selbstverständlichkeit ist, wird es weitere Projekte wie "Cultural Affairs" brauchen.

Wibke Schrape