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Anna Kollatz / Tilmann Kulke: Aktuelle Studien zur Geschichte des Islams in Indien. Einführung, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
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Aktuelle Studien zur Geschichte des Islams in Indien

Einführung

Von Anna Kollatz / Tilmann Kulke

Nach dem Hinduismus ist der Islam in Indien die am zweithäufigsten praktizierte Religion. Im letzten Zensus aus dem Jahre 2011 stellen 172.2 Millionen Gläubige 14,2 % der Gesamtbevölkerung Indiens und bilden damit die drittgrößte muslimische Bevölkerung nach Indonesien und Pakistan weltweit. Die Geschichte des Islams in Indien ist ein faszinierendes, vielfältiges und international tätiges Forschungsfeld, welches seit dem Erstarken der rechtsextremen, hindu-nationalistischen Partei BJP in den 1980er Jahren und dem Machtantritt ihres populistischen Führers Narendra Modi 2014 eine enorme Politisierung und Instrumentalisierung erfahren hat. Es wird also allerhöchste Zeit, wichtige und aktuelle Neuerscheinungen aus der Geschichte des Islams in Indien in den sehepunkten vorzustellen und zu diskutieren, wofür wir den Herausgebern ausdrücklich danken wollen.
 
Als sich das noch junge islamische Reich in Indien im Gefolge der islamischen Expansion und dem Sieg der Araber über das Perserreich der Sassaniden ab Mitte der 660 Jahre konsequent über den Subkontinent ausbreitete, trafen die Muslime dort zum ersten Mal auf eine groß angelegte religiöse Zivilisation, über die weder der Koran noch die Hadithe berichteten. Wie aber nun sollten sich die Muslime in diesem neuen Land mit so vielfältigen Religionslandschaft zurechtfinden, wenn es doch so wenig explizite Hinweise in ihren heiligen Schriften gab? Die jahrhundertealten Religionen des Hinduismus, der Jainismus und der Buddhismus hatten alle ihren Ursprung in Indien und obwohl sich der Buddhismus in Indien ab dem achten Jahrhundert n. Chr. im Niedergang befand, bildete er dennoch eine starke Präsenz, wie auch das sich weltweit ausbreitende Christentum. Die neuen Machthaber mussten sich also schon allein aus rein praktischen Gründen auf die eine oder andere Weise mit diesen großen Religionsgemeinden arrangieren, befanden sie sich doch stets zahlenmäßig gesehen in einer Minderheitenposition. Während die expandierende islamische Herrschaft für die sogenannten 'Buchreligionen', also monotheistische Religionsgemeinschaften wie Judentum und Christentum, bereits tragfähige Mechanismen der Integration in ihr Herrschaftssystem entwickelt hatte, stellte sich für die in Indien anlandenden Muslime die Frage, wie mit den dort vorgefundenen Religionsgemeinschaften umzugehen sei.  Und obwohl man hätte erwarten können, dass die sie alle nicht offensichtlich monotheistischen Religionsgruppen rundheraus als bloße Götzendiener und Ungläubige ablehnen und mit Gewalt zur neuen Religion bekehren wollten, war die historische Reaktion überraschend nuanciert und entgegenkommend. So konnte sich in den nun folgenden Jahrhunderten eine einzigartige synkretische und hybride Indo-Persische Kultur entwickeln, die vor allem unter den Moguln (1526-1858) unterstützt und gezielt vorangetrieben wurde. Seit der Regierungszeit Akbars (1542-1605), verfolgten alle Herrscher eine "higher form of 'kingship' in which all elements of a diverse society were united by submission. Whatever their status, caste, faith or tribe, every citizen was equally inferior to the Emperor. Everyone was meant to share in a common purpose - to assist their perfect leader in creating a perfect state. Their reward would be tolerance, security, prosperity and justice (…) The creation of a coherent political ideology and the concept of the Mughal state as a living thing capable of inspiring trust and affection as well as fear and greed were essential in allowing this empire to survive far longer than the empires of Chingiz Khan, Timur and many other previous conquerors - for centuries, not decades." [1]
 
Solch vielschichtige Analysen haben in den Studien BJP-höriger Intellektueller jedoch keinerlei Platz, denn hier herrscht ein einseitiges schwarz-weiß-Denken, in dem der Islam und seine Anhänger als fremde Invasoren und Eindringlinge abgeschrieben werden, die einzig darauf abzielten, eine historisch so nie dagewesene homogene Hindu-Kultur auszulöschen und an der nicht-muslimischen Bevölkerung einen Genozid zu veranstalten. Diese pauschalisierende Interpretation und politische Instrumentalisierung geht teilweise auf britisch-koloniale Geschichtserzählungen zurück, die die negative Interpretation muslimischer Herrschaft unter anderem dazu nutzten, die eigene koloniale Präsenz auf dem Subkontinent zu rechtfertigen.
 
Ein Name, der mit dieser Art instrumentalisierend-interpretierender Geschichtsschreibung verbunden ist wie kaum ein anderer, ist der des sechsten Mogulherrschers Aurangzeb Alamgir (1618-1707), der in zahlreichen Studien und öffentlichen Debatten nach wie vor als fanatisch-religiöser Muslim beschrieben wird und, als wäre dies nicht genug, sogar als Sündenbock für die 140 Jahre nach seinem Tod beschlossene Teilung Indiens herhalten muss. In ihrer für die breite Öffentlichkeit verfassten Studie über sein Leben präsentiert Audrey Truschke eine ausgezeichnete Einführung in die Herrschaftszeit dieses so umstrittenen Herrschers und legt überzeugend dar, warum sein oft geschmähtes Erbe eine Neubewertung verdient. Truschke bewertet Aurangzeb nicht nach heutigen Maßstäben, sondern nach den Traditionen und Werten seiner eigenen Zeit und präsentiert eine äußerst komplexe Herrschaftspersönlichkeit, dessen Beziehung zum Islam keinesfalls die eines strikten Fundamentalisten war, als vielmehr strategisch, widersprüchlich und realpolitischen Motiven geprägt war (Anna Kollatz zu den beiden Ausgaben von Audrey Truschkes Aurangzeb).

Auch in der zweiten Buchbesprechung gilt es aufzuzeigen, dass es den Islam als solchen nicht gibt, geschweige denn eine fixe und für alle Muslime weltweit gleichermaßen geltende politische Agenda, auf die man nur zurückgreifen und hörig folgen müsse, wenn es um die Erlangung politischer und gesellschaftlicher Partizipation geht. In Politicizing Islam bietet Fareen Parvez einen eingehenden Blick auf die muslimischen Erneuerungsbewegungen Frankreichs und Indiens, welche die beiden größten muslimischen Minderheiten in Westeuropa und Asien beheimaten und wo sich die Staatsräson des Säkularismus seit Jahren in einer tiefen Krise befindet. Die Autorin liefert einen eingehenden Blick darauf, wie französische und indische Muslime auf diese Krise des Säkularismus reagieren, indem sie die Gemeinden der islamischen Erweckungsbewegungen und ihre Akteure in Lyon und Hyderabad porträtiert und eingehend analysiert. (Kulke zu Parvez). 

Daran anschließend bespricht Anna Kollatz Rajeev Kinras im Open Access zugängliche Monographie über die Schriften des brahmanischen Sekretärs Chandra Bhan Brahman, die eindrucksvoll verdeutlicht, wie tief die im Mogulreich entstandene synkretistische Kultur zumindest in der Klasse der Hofbediensteten und Intellektuellen verwurzelt gewesen sein muss. Chandra Bhan, aus einer alten brahmanischen Familie stammend, verbindet in seinen Schriften sufische Ansätze mit der Tradition seiner Familie ebenso wie mit Ansichten zur Herrschaftstheorie, die Wurzeln in der altpersischen Tradition erkennen lassen.
 
Die Forschung über königliche und adlige Frauen im Mogulreich ist zwar nach wie vor spärlich, nimmt aber neuerdings zu, wie die viel beachtete Studie Ruby Lals über das Leben der wohl berühmtesten Prinzessin und späteren Kaiserin des Mogulreiches, Nur Jahan (1577-1645), belegt. Als Tochter einer persischen Adligen und Witwe eines staatskritischen Hofbeamten, die zuvor aus dem safawidischen Iran  nach Indien übergesiedelt waren, wurde sie 1611 im Alter von 34 Jahren die zwanzigste und beliebteste Ehefrau des Kaisers Jahangir (reg. 1605-1627). Einmal im Zentrum der Macht angekommen, begann Nur Jahan äußerst geschickt ihre Netzwerke auszubauen, begleitete ihren Mann auf seinen Reisen durchs Reich, verwaltete riesige Ländereien, besuchte Sufi-Heilige, bewies ihre Fähigkeiten bei so wichtigen höfischen Ereignissen wir der Jagd, leitete höfische Rituale, griff aktiv in die komplexe Struktur der Nachfolgeregelungen ein und gab sogar königliche Orden und Münzen in ihrem Namen heraus. Und obwohl unser Rezensent Anurag Advani Ruby Lals Studie jedem empfiehlt, der sich für die Geschichte Südasiens und mächtiger, politisch aktiver Frauen innerhalb der persianisierten Kultur und ihrer Eliten interessiert, kommt es in seiner Besprechung doch zu einigen kritischen Bemerkungen. 

In India in the Persianate Age, 1000-1765 ordnet Richard Eaton, einer der weltweit führenden Mogulforscher, die Stellung Indiens innerhalb der Persianate World ein und distanziert sich von dem traditionellen Verständnis, dass die Religionen Indiens in dem hier behandelten Zeitraum den primären Baustein kollektiver Identitäten lieferten und die alleinige Grundlage der politischen Entscheidungen der machthabenden Elite war. Diese Epoche einzig als "Muslim period" zu kennzeichnen komme, so Eaton, also viel zu kurz und solle vielmehr durch ein, an Sheldon Pollock angelehntes, Konzept der Persian Cosmopolis  analysiert werden. Unsere Rezensentin Ayelet Kotler empfiehlt Eatons neues Meisterwerk daher jedem Studenten und Forschenden mittelalterlicher und frühneuzeitlicher indischer Kulturgeschichte. 

Während sich ein Großteil der Forschung über das mittelalterliche und frühneuzeitliche Indien auf indo-persische Chroniken konzentriert, verlagert Jyoti Balachandran in Narrative Pasts: The Making of a Muslim Community in Gujarat den Schwerpunkt auf persische und arabische Sufi-Texte, und argumentiert, dass diese Sufi-Erzählungen, die erstmals im 15. Jahrhundert verfasst wurden, eine ganz entscheidende Rolle bei der Schaffung einer muslimischen Gemeinschaft und Identität in Gujarat bis weit ins 17. Jahrhundert spielten. Durch den Fokus auf diese in der Forschung bisher völlig unbeachteten Texte schafft es die Autorin, einen erhellenden Blick auf diese Region und Epoche zu werfen, da diese Sufi-Erzählungen eine ganz andere Sicht auf die Vergangenheit eröffnen, als es die offiziellen höfischen Texte vermögen, welche sich, beispielsweise, auf die Eroberungen des Herrschers, höfische Feste, Verwaltungsfragen, Nachfolgeregelungen, etc. konzentrieren. Die hier analysierten und philologisch vorbildlich aufgearbeiteten Texte eröffnen dem Leser stattdessen eine Welt, die von bewegenden zwischenmenschlichen Beziehungen zeugt, einer lebenslanger Treue zwischen Meister und Schüler und von festen, weitreichenden solidarisch agierenden und Netzwerken, welche die Geschichte und Kultur der hier behandelten Region - und weit darüber hinaus - entscheidend prägen sollten; eine unbedingt zu empfehlende Studie, wie unsere Rezensentin Pia Malik findet.

Wir wünschen allen sehepunkte-Lesern eine erhellende Lektüre!

Anmerkung:
 
[1] Andrew de la Garza: The Mughal Empire at War. Babur, Akbar and the Indian Military Revolution, 1500-1605, London / New York 2016, 56.

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