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Thomas Olechowski: Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, XXIV + 1027 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-16-159292-8, EUR 59,00
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Rezension von:
Jonas Klein
Universität Potsdam
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Jonas Klein: Rezension von: Thomas Olechowski: Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 3 [15.03.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/03/35510.html


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Thomas Olechowski: Hans Kelsen

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Hans Kelsen besitze "im Bereich der Rechtstheorie einen Stellenwert ähnlich wie Einstein", schrieb 1935 der Vizehandelsminister der USA, John Dickinson. Zu diesem Zeitpunkt hatte der gebürtige österreichische Jude, der zwischenzeitlich die deutsche Staatsbürgerschaft innegehabt hatte und damals evangelischer Bürger der Tschechoslowakischen Republik war, begonnen, eine Emigration in die USA zu erwägen (657). Albert Einsteins populärkulturellen Ruhm teilt Hans Kelsen (1881-1973) freilich nicht, dennoch weist eine umfassend institutionalisierte Forschung - Hans-Kelsen-Institut (Wien), Hans-Kelsen-Forschungsstelle (Freiburg im Breisgau) - den Begründer der "Reinen Rechtslehre" und Verfasser der demokratietheoretischen Schrift "Vom Wesen und Wert der Demokratie" als einen der bedeutendsten Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts aus.

Erklärter Zweck der vorliegenden Biografie ist es, die "geistigen und materiellen Bedingungen" (928) von Kelsens Lebenswerk und mithin dessen Zeitgebundenheit einem juristischen Fachpublikum aufzuzeigen. Gleichwohl verdient die Studie auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive höchste Anerkennung, selbst wenn der juristische Laie wiederholt Fachtermini nachschlagen muss. Denn ihr Autor, Thomas Olechowski, gründet seine Darstellung auf eine wohl kaum zu überbietende Materialfülle. Unter weitgehendem Verzicht auf methodologische Reflexionen über die Biografie als Genre legt er einleitend über den Ablauf eines Großprojekts Rechenschaft ab, das vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung über acht Jahre unterstützt worden ist. Allein im Hinblick auf ungedruckte Quellenbestände wurden neben dem von Olechowski geleiteten Hans-Kelsen-Institut in Wien 47 Archive und private Sammlungen in neun Ländern in die Recherchen einbezogen. Trotz dieser beeindruckenden Rechercheleistung kann allerdings gerade die Vita des Juristen vor 1945 nur eingeschränkt durch zeitgenössische Ego-Dokumente wie Briefe erschlossen werden. Stattdessen muss sich Olechowski vor allem auf das von dessen Schüler Rudolf A. Métall [1] verfasste Lebensbild Kelsens sowie auf dessen knappe, lange unveröffentlicht gebliebene Autobiografie von 1947 [2] als maßgebliche Referenztexte stützen, auch wenn er deren Quellenwert bei aller erkennbaren Sympathie für seinen Protagonisten besonders kritisch betrachtet.

Vier Großabschnitte mit einem Umfang zwischen 149 und 261 Seiten gliedern die Darstellung von Kelsens Leben und verschränken dieses zugleich mit der Politik- und der Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, etwa wenn seiner einfachen Herkunft und den beruflichen Anfängen in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie die hochfliegende Karriere als Professor und Verfassungsrichter der Ersten Republik Österreich folgt. Ähnliches gilt für Kelsens "Sturz" (437) infolge des Österreich erschütternden Streits um das Ehescheidungsrecht und gleichfalls für Kelsens ebenso kurze wie konfliktreiche Zwischenspiele in Köln, Genf und Prag im Schatten des NS-Regimes. Den Schrecken des Zweiten Weltkriegs entfloh Kelsen durch die 1940 geglückte Emigration in die USA und die hürdenreiche, aber letztlich erfolgreiche Integration in das US-amerikanische Wissenschaftssystem - das den letzten Abschnitt des Buches bildet. Der Gesamtumfang einer über 1000-seitigen Biografie, die kaum eine Verästelung familiärer Beziehungen auslässt und teils sogar die Geschichte der Straßen und Häuser, in denen Kelsen lebte, miteinschließt, kann durchaus erschlagend wirken. Doch erleichtern die Kürze der Unterkapitel und das detaillierte Inhaltsverzeichnis sowie die minutiös erstellten Register und eine konzise Zusammenfassung der Ergebnisse (919-929) den Zugriff auf den Text enorm.

In dieser Möglichkeit eines differenzierten Zugriffs liegt auch der besondere Wert der Arbeit für die historische Forschung, insofern die Auseinandersetzung mit einzelnen Themenkomplexen einer Gelehrtenbiografie im Falle Kelsens nun systematisch erfolgen kann. Daher lässt sich auch - im Widerspruch zu Reinhard Mehrings Urteil [3] - eine selektive Lektüre durchaus fruchtbar betreiben. Mit Blick auf Kelsens Lebensweg von Prag bis Berkeley, währenddessen vier Staatsbürgerschaften und drei Konfessionen aufeinander folgten, betrifft dies wohl am augenfälligsten Fragestellungen zur Geschichte der Migration und der sozialen Mobilität, ferner aber auch die Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinne. In den Abschnitten über Kelsens Berufungsverhandlungen und die Entwicklung seiner Schülerkreise an den jeweiligen Wirkungsstätten erweist sich ein vorgeblich auf der reinen Vernunft gegründetes Wissenschaftssystem allzu oft nachhaltigem Einfluss sachfremder beziehungsweise irrationaler Faktoren ausgesetzt. Hieran ließen sich Fragestellungen nach strukturellen Beharrungskräften im akademischen Feld anschließen. Hat doch auch Kelsen als ein so unzweifelhaft persönliche Benachteiligung Erduldender, zugleich eigenwilliger und zeitweise in der sozialdemokratisch inspirierten Volksbildung engagierter Gelehrter die Hürden der akademischen Karriere vornehmlich als individuelle Krisen begriffen und jedenfalls kein Engagement zur Reform der Universität entfaltet. Da Kelsen in den krisenhaftesten Jahren seines Lebens, von 1933 bis 1945, durch die Rockefeller Foundation entscheidend unterstützt wurde, bietet seine Biografie zudem einen spezifischen Zugang zur Bedeutung privater "Drittmittelgeber" im modernen Wissenschaftsbetrieb.

Schließlich ist die "Biografie eines Rechtswissenschaftlers" auch in Bezug auf die historische Problematik von Intellektuellen und Experten [4] in hohem Maße für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen anschlussfähig. Eine systematische Differenzierung in diesem Sinne fehlt bei Olechowski allerdings, auch wenn er wiederholt die Abwesenheit von Wechselbeziehungen zwischen Kelsens wissenschaftlicher Theorie sowie seiner juristischen Praxis als Richter und Gutachter herausstellt. Dabei erscheint Kelsen, der "Architekt der Bundesverfassung" (923) der österreichischen Republik und ihrer Verfassungsgerichtsbarkeit, in Olechowskis Darstellung geradezu beispielhaft in beiden Rollen und umfassend eingebettet ins Milieu des "intellektuellen Wien", dem er neben Siegmund Freud, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und etlichen anderen zuzurechnen ist [5]. Exemplarisch sei für diese Problemstellung auf den bereits erwähnten Dispensehen-Streit ab 1926 verwiesen (437-459). Durch die Diskrepanz zwischen dem formalen Scheidungsverbot für Ehen mit mindestens einem katholischen Partner einerseits und der inflationären, Rechtsunsicherheit generierenden Verwaltungspraxis der Dispensierung von Wiederverheiratungen in Trennung Lebender andererseits hat Kelsen die Autorität des Staates auf Schwerste erschüttert gesehen. Da er durch Pressebeiträge in die politische Debatte um das österreichische Ehestandsrecht eingriff, wurde Kelsen als linker Intellektueller markiert. Maßgeblich infolge der durch diesen Zwist motivierten politischen Feindseligkeiten verlor er bei der nachfolgenden Verfassungsreform 1929 seine Stellung als Richter am Verfassungsgerichtshof, nachdem er die parteipolitische Neutralität dem informellen Bündnis mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vorgezogen hatte.

Thomas Olechowski und seine Mitarbeiterinnen, auf deren Vorstudien der Autor aufbaut, zeichnen für ein Werk verantwortlich, das als Biografie eines Rechtswissenschaftlers zweifellos ein Standardwerk werden wird und das zugleich der Geschichtswissenschaft auch über die Biografie Kelsens hinaus Impulse zu geben vermag.


Anmerkungen:

[1] Rudolf Aládar Métall: Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969.

[2] Hans Kelsen, Autobiographie (1947), in: Ders.,: Werke, Bd. 1: Veröffentlichte Schriften 1905-1910 und Selbstzeugnisse, hg. von Matthias Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut, Tübingen 2007, 29-91.

[3] Reinhard Mehring: "Viel Papier beschrieben / und im Irrtum geblieben"? Thomas Olechowskis kolossale Kelsen-Biographie, in: Der Staat 59 (2020), 451-462, hier 462.

[4] Vgl. Clemens Albrecht: Sinnspezialisten der Verbindlichkeit. Legitimation und Kontrolle durch Intellektuelle, in: Heiner Hastedt (Hg.): Macht und Reflexion, Hamburg 2016, 105-120, und Caspar Hirschi: Skandalexperten, Expertenskandale. Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems, Berlin 2018.

[5] Peter Techet, Rezension zu: Olechowski, Thomas: Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers. Tübingen 2020. ISBN 978-3-16-159292-8, in: H-Soz-Kult, 3.11.2020; www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29700 [24.01.2022].

Jonas Klein