Wolfgang Breul / Benjamin Marschke / Alexander Schunka (Hgg.): Pietismus und Ökonomie (1650-1750) (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 65), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 476 S., 4 s/w-Abb., 9 Tbl., ISBN 978-3-525-56042-6, EUR 85,00
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Die 100 Jahre zwischen 1650 und 1750 brachten in Europa substanziell neue Frömmigkeitskulturen und Wirtschaftsweisen hervor: Religiöse Erneuerungsbewegungen wie Pietismus und Jansenismus grenzten sich von den Konfessionskirchen ab, die sie für erstarrt hielten. Zeitgleich veränderte sich die Wirtschaftspraxis, beispielsweise durch die Schaffung protoindustrieller Verlagssysteme und Manufakturen zur Befriedigung der Bedarfe der jungen consumer societies. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass die vielfältigen Verflechtungen von Pietismus und Ökonomie bisher kaum beachtet worden sind. Selbst neuere Standardwerke wie Douglas Shantz' umfangreicher "Companion to German Pietism" aus dem Jahr 2015 enthalten kein Kapitel zu Ökonomie. [1] Es ist daher sehr erfreulich, dass die drei Herausgeber dieses Desiderat erkannt haben und mit ihrem Band das "Verhältnis der beiden Sphären zueinander" (9) beleuchten.
Der Sammelband dokumentiert die gleichnamige Tagung, die im November 2012 an der Universität Mainz stattgefunden hat, und umfasst 20 Beiträge von Vertretern und Vertreterinnen der Theologie, der Geschichts-, Literatur- sowie Kulturwissenschaft. Die Herausgeber ordnen das Gros der Beiträge den beiden (idealtypisch getrennten) Sektionen "Reflexionen religiös-ökonomischer Zusammenhänge" und "Praktiken des Wirtschaftens" zu. Der dritten Sektion liegt ein weiter, sozialwissenschaftlich geprägter Ökonomiebegriff zugrunde: Sie nimmt "kulturelle und religiöse Ökonomien" in den Blick.
Justus Nipperdey eröffnet die erste Sektion mit einem kleinen Paukenschlag: Er dekonstruiert die verbreitete Annahme einer "zeitgenössischen Ausnahmestellung der pietistischen Wirtschaftsvorstellungen" (26 f.) und weist überzeugend nach, dass die Semantik des Nutzens bzw. der Verbesserung den Pietismus Hallescher Prägung eng mit dem Kameralismus verband. Gerade weil die Hallenser nicht mit der baldigen Wiederkehr Christi rechneten, nahmen sie die Zukunft als formbar war und unterschieden sich deutlich von separatistisch-pietistischen Gruppen, die Matthias Plaga-Verse in seinem Aufsatz fokussiert. Die Gemeinschaft der Christusgeweihten sowie die Evische Sozietät wählten aufgrund der chiliastischen Naherwartung eine kommunitäre Lebensweise, die jedoch nur eine kurze Zeit aufrechterhalten werden konnte.
Die Sektion zu Wirtschaftspraktiken umfasst neun Beiträge: Kai Lohsträtter und Alexander Schunka zeigen anschaulich, dass sowohl die Hallischen Zeitungen als auch die minutiös geplanten Kollektenreisen der Hallenser vielfältige Funktionen erfüllten. Sie dienten, abgesehen von der Geldgewinnung, dem Aufbau bzw. der Verstetigung von Netzwerken sowie der Verbreitung von Glaubensinhalten. Heidrun Homburg und Peter Vogt analysieren kenntnisreich, wie die Herrnhuter Brüdergemeine bis Mitte des 18. Jahrhunderts einen enormen Schuldenberg anhäufte, den sie bis 1801 durch eine stark rationale Wirtschaftsweise vollständig abtragen konnte. Sehr lesenswert ist zudem der Beitrag von Thomas Max Safley mit der provokanten Frage, ob es im Bereich der Waisen- und Armenfürsorge überhaupt möglich sei, eine "specifically Pietist economy" zu identifizieren (253). Safley vergleicht die katholischen bzw. evangelischen Waisenhäuser der Reichsstadt Augsburg des 16. Jahrhunderts mit pietistischen Anstalten und arbeitet zahlreiche Parallelen heraus: Die Einrichtungen verbinde, dass sie Profit nicht grundsätzlich ablehnten, dezidiert auf Effizienz achteten und die Verrichtung der Arbeit stark religiös aufluden. Der größte Unterschied findet sich gemäß Safley im Zweck der karitativen Tätigkeit: Während pietistische Waisenfürsorge dazu diente, "to make straight the way for God's Kingdom on earth", zielten die Augsburger Waisenhäuser darauf ab, aus bedürftigen Kindern produktive Bürgerinnen und Bürger zu formen (267).
Mit Blick auf die dritte Sektion sind besonders die drei sich gut ergänzenden Beiträge zu pietistischer Zeitökonomie erwähnenswert. Udo Sträter zeigt anschaulich, dass die Hallenser Pietisten die Zeit des Menschen auf Erden als "Saatzeit" wahrnahmen, die klug für fromme Zwecke, nicht jedoch für rein innerweltliche Geschäftigkeit genutzt werden sollte. Für August Hermann Francke war es daher wichtig, in der Außendarstellung nicht als rastlos tätiger Anstaltsdirektor, sondern als gottesfürchtiger Mann zu erscheinen, der sich Zeit für Kontemplation nimmt. Die pietistische Maxime, Zeit stets gottgefällig zu nutzen, führte zwangsläufig zu Kritik an Formen bürgerlichen bzw. adeligen Zeitvertreibs. Wie Corinna Kirschstein darlegt, erachteten Pietisten Theateraufführungen als unproduktive Zeitverschwendung, die überdies moralisch gefährlich war. Benjamin Marschke hingegen arbeitet die ambivalente Haltung Friedrich Wilhelms I. von Brandenburg-Preußen gegenüber höfischen Divertissements heraus. Besonders in den ersten Herrschaftsjahren bestand Einigkeit zwischen dem König und seinen pietistischen Gesprächspartnern, dass Tanzveranstaltungen sowie Masqueraden Zeitvergeudung und daher abzuschaffen seien. Die höfische Jagd verteidigte er allerdings zeitlebens mit "pseudo-medical terms." (453)
Bei allem Lob sei ein Kritikpunkt erlaubt: In der Einleitung gerät die Schilderung der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung zwischen 1650 und 1750 sehr holzschnittartig, vor allem, weil wichtige Werke nicht rezipiert wurden. [2] Für das Verständnis der Aufsätze wäre es hilfreich gewesen, eingangs darzulegen, dass die moralisch legitimierte Ökonomie mit ihrem hohen Anteil an gemeinschaftlichen Verfügungsrechten erst um 1800 von der liberalen Wettbewerbswirtschaft abgelöst wurde. Da dies unterblieb, könnte sich bei den Leser und Leserinnen das unzutreffende Bild einstellen, um 1750 habe eine klare Dichotomie zwischen gottgläubigen Pietisten und ihrer marktgläubigen Umwelt existiert. Das Gegenteil war der Fall: Religion blieb, wie Martin Lutz und Boris Gehlen unlängst pointiert festhielten, das ganze 18. Jahrhundert hindurch das "maßgebliche Legitimationssystem für ökonomische Transaktionen." [3]
Unter dem Strich bleibt festzuhalten, dass der Sammelband einen wichtigen Beitrag leistet, die Wirtschaftsaktivitäten bzw. -vorstellungen und somit die finanzielle Basis des Pietismus auszuleuchten. Die gelungenen Aufsätze verdeutlichen, dass innerhalb des Pietismus sehr unterschiedliche Arten religionsgemeinschaftlichen Wirtschaftens existierten, die besonders von der Organisationsform sowie der Zukunftserwartung abhingen.
Anmerkungen:
[1] Douglas Shantz: A Companion to German Pietism 1660-1800, Leiden / Boston 2015.
[2] Stellvertretend seien genannt Clemens Wischermann / Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004; Werner Plumpe: Ökonomisches Denken und wirtschaftliche Entwicklung. Zum Zusammenhang von Wirtschaftsgeschichte und historischer Semantik der Ökonomie, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 50 (2009), 27-52; sowie Eckhart Hellmuth: Praktische Philosophie und Wirtschaftsgesinnung. Zur Reflexion über Wirtschaft, Erwerb und Gewinn im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 9 (1986), 135-149.
[3] Martin Lutz / Boris Gehlen: Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn? Unternehmer zwischen Gottesfurcht und Marktglaube im modernen Kapitalismus, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 61 (2020), 19-38, 23.
Thomas Dorfner