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Patricia Hongler: Den Süden erzählen. Berichte aus dem kolonialen Archiv der OECD (1948-1975), Zürich: Chronos Verlag 2019, 260 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-0340-1541-7, EUR 44,00
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Rezension von:
Andreas Weiß
Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg
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Andreas Weiß: Rezension von: Patricia Hongler: Den Süden erzählen. Berichte aus dem kolonialen Archiv der OECD (1948-1975), Zürich: Chronos Verlag 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 11 [15.11.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/11/34888.html


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Patricia Hongler: Den Süden erzählen

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Patricia Honglers Dissertation Den Süden erzählen: Berichte aus dem kolonialen Archiv der OECD (1948-1975) reiht sich in den wachsenden Korpus an Literatur zur Geschichte der europäischen Integration und ihrer kolonialen Vergangenheit ein. Besonders der Komplex um das vermeintlich neokoloniale Projekt "Eurafrika" hat in den letzten Jahren wieder verstärkt Aufmerksamkeit gefunden, begleitete die europäische Integration aber schon in ihren Anfängen [1]. Doch Hongler setzt hier einen neuen Schwerpunkt, denn die Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) taucht in diesen Erzählungen bis heute, wenn überhaupt, nur am Rande auf. Generell wurde in den letzten Jahren der Fokus mehr auf ihren Einfluss auf das Funktionieren der Weltwirtschaft gelegt, zum Beispiel durch die Generierung eines Wachstumsparadigmas - Ideen, denen auch Patricia Hongler folgt, da ihre Arbeit im selben Forschungsumfeld entstanden ist [2].

Das Buch widmet sich in acht Kapiteln, von denen das achte als Längsschnitt über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg konzipiert ist, der Frage nach dem Selbstbild des "Westens" in den Debatten vor allem des Development Assistance Committee (DAC) der OECD, aber auch innerhalb der Vorläuferorganisation Organisation for European Economic Co-operation (OEEC). Auf eine fundierte Einleitung, die die wesentliche Sekundärliteratur kritisch reflektiert, folgen drei einführende Kapitel, die nochmals auf die Situation Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die Vorgeschichte der Gründung der OEEC und die Suche nach der neuen "Erzählung" angesichts der sich beschleunigenden Dekolonisierung und des amerikanischen Widerstandes gegenüber europäischen Kolonialphantasien eingehen. Es folgen drei Kapitel zur eigentlichen Arbeit im DAC und eines, das anhand von drei Fallbeispielen konkret die Erstellung der OECD-Berichte nachzeichnet. Das nächste Kapitel untersucht das Agieren der OECD-Staaten auf der wegweisenden UNCTAD-Konferenz von 1964 und deren Schock über das selbstbewusste Auftreten des "Südens". Das siebte Kapitel konzentriert sich auf Hunger als eine neue Kategorie, die ein neues Erzählen über den "Süden" ermöglicht, da nun Entwicklungshilfe als scheinbar neutrales Instrument auftaucht, das dem "Norden" weiterhin eine Intervention im "Süden" erlaubte. Hierauf folgt das schon erwähnte Querschnittskapitel, das sich nochmals generell der Frage nach der Bedeutung von Statistiken in der Politik des DAC und deren oft unhinterfragtem Einsatz in der Entwicklungshilfe widmet. Eine kritische Zusammenfassung rundet die Arbeit ab, die mit dem sich gegenüber aktuellen Geschehnissen methodisch-kritisch positionierenden "Epilog: Sachlichkeit im postfaktischen Zeitalter" endet.

Vorwegzunehmen ist, dass aus Sicht des Rezensenten der Titel vielleicht etwas irreführend ist, da der "Süden" hier ja nicht erzählt wird, obgleich dies in der Einleitung so dargestellt wird (11-12). Denn nach Hongler dominiert ein Narrativ über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg: In den untersuchten Quellen wird der Süden überwiegend als irrational und emotional dargestellt, Dekolonisierung spielt nur als Hintergrundfolie eine Rolle. Nach Ansicht des Rezensenten zeigt das Buch viel eher die Selbstvergewisserung des Nordens (bei Hongler des "Westens") in den Debatten zuerst rund um die Dekolonisierung, später um Entwicklungshilfe - und welche Rolle die OEEC/OECD hier einnehmen kann oder sollte. Denn für die in Aussicht gestellte Erforschung eines Narratives fehlt hier zu oft die Rezipientenseite. Bis auf vereinzelte Stimmen aus dem "Süden" und Zitate aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommt eine kritische Öffentlichkeit in diesem Buch kaum vor.

Von dieser Kritik abgesehen bietet das Buch viele spannende Einblicke in die internen Debatten vor allem des DAC und berücksichtigt auch immer wieder "randständige" Perspektiven, neben der schweizerischen zum Beispiel auch die portugiesische. Leider bleiben diese Blickwinkel hin und wieder etwas unausgewogen. So sehr ein Fokus auf britische Akten aufgrund des leichteren Zugangs und der bildhaften Sprache nachvollziehbar ist (auch der Autor dieser Rezension kennt diese Versuchung nur zu gut), so hätte eine konsequente Multiperspektivität zum einen den permanenten Aushandlungsprozess, zum anderen aber auch die interne Machtasymmetrie noch stärker hervorheben können (auch, wenn dies in einzelnen Abschnitten immer wieder thematisiert wird). Ebenso werden in den durchaus hilfreichen Zwischenfazits wiederholt Erkenntnisse und Analysen angeboten, die so vorher in den Hauptkapiteln nicht angesprochen wurden. Hier hätte sich der Rezensent für die eine oder andere ausführlichere Behandlung oder Begründung dieser teilweise weitreichenden Schlussfolgerungen interessiert; so zum Beispiel zur ambivalenten Position, die manche westlichen Staaten, in diesem Falle Irland, in diesen Debatten bezogen (165-166).

Trotz dieser Punkte handelt es sich um eine flüssig lesbare Darstellung, die spannende und ungewohnte Einblicke in einen der Maschinenräume der Dekolonisierung bietet. Mit ihrer (vor allem im hinteren Teil vehement vorgebrachten) Kritik an den westlichen Institutionen wird das Buch sicher eine breite Leserschaft finden.


Anmerkungen:

[1] Schon 1961 wurde dies thematisiert, vgl. Carol Ann Cosgrove: The Common Market and its Colonial Heritage, in: Journal of Contemporary History 4 (1969) H. 1, 73-87.

[2] Zum Wachstumsparadigma Matthias Schmelzer: The Hegemony of Growth. The OECD and the Making of the Economic Growth Paradigm, Cambridge 2016. Es handelte sich um die vom Schweizerische Nationalfonds (SNF) geförderte Forschergruppe "Statistics between Empire and Nation. Generalized knowledge in European-African relations" und die SNF-Forschungsprofessur "Macroeconomic Expertise and International Organization. Generalized knowledge in European-African relations 1940s-1960s".

Andreas Weiß