Rezension über:

Raphael Lemkin: Ohne Auftrag. Autobiografie (= Bibliothek Literatur und Menschenrechte), Eschenlohe: Buxus Stiftung 2020, 421 S., ISBN 978-3-9817614-3-6, EUR 28,00
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Rezension von:
Konstantin Rometsch
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Konstantin Rometsch: Rezension von: Raphael Lemkin: Ohne Auftrag. Autobiografie, Eschenlohe: Buxus Stiftung 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/36300.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Raphael Lemkin: Ohne Auftrag

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75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, und sieben Jahre nach der englischsprachigen Edition von Donna-Lee Frieze [1], erscheint nun erstmals die deutsche Übersetzung der unveröffentlichten Autobiografie des aus dem Gouvernement Grodno stammenden Juristen Raphael/Rafał Lemkin (1900-1959), der die Kategorie "Genozid" ersonnen und im Völkerrecht etabliert hat. Stephanie Arzinger hat das Werk in den allermeisten Passagen sicher und einleuchtend aus dem Englischen (und Spanischen) übertragen. Die hier neben Frieze nun hinzutretenden Herausgeber*innen sind mit dem Madrider Berg Institute (der Völkerrechtler und Übersetzer der spanischen Edition von 2018 Joaquín González Ibáñez) sowie mit der 2013 gegründeten Buxus Stiftung (die Fritz-Bauer-Biografin Irmtrud Wojak) verbunden und eröffnen mit der vorliegenden Edition die Bibliothek Literatur und Menschenrechte in deutscher Sprache. Ein Vorwort für die deutsche Ausgabe, ein Foto- und Dokumentenanhang sowie die zusätzliche Übersetzung der Vorworte der spanischen Edition von 2018 (u. a. des Schriftstellers Antonio Muñoz Molina) ergänzen die reine Übertragung von Friezes Arbeit, einer Leistung, die vor allem in der Zugänglichmachung, Ordnung und Verknüpfung von Lemkins unfertigen, maschinen- und handschriftlichen Aufzeichnungen aus der New York Public Library bestand.

Die Übersetzung des Originaltitels "Totally unofficial", einer Lemkin zugeschriebenen Bezeichnung, die auch in einem New York Times-Artikel aus dem Jahr 1957 über die ausgebliebene Ratifikation der Genozidkonvention durch die Vereinigten Staaten auftauchte, mit "Ohne Auftrag" wird nicht näher begründet. Die spanischsprachige Schwesterausgabe bleibt dagegen mit "Totalmente Extraoficial" näher am Original. Die nun vorliegende Edition fügt der eher als Leseausgabe konzipierten Edition Friezes - neben der lesefreundlichen Umwandlung von End- zu Fußnoten - mit "Anm. d. Hrsg." sowie "Anm. d. Ü." versehene zusätzliche Erklärungen hinzu, was durchaus einen Mehrwert für Leser*innen darstellt, jedoch auch zu leichter Verwirrung führen kann, wenn man sich nicht selbstständig die handwerkliche Vorgehensweise der Edierenden durch Vergleiche mit der Originalausgabe oder gar den Originalmanuskripten Lemkins erschließt. Bedauerlicherweise ist trotz der zahlreichen Vorworte an keiner Stelle eine kurze Erläuterung zum eigenen Verfahren bei solch einer Editionsübersetzung und -erweiterung zu finden. Lediglich in einer Fußnote (66) legt die Übersetzerin offen, dass es sich, wenn nicht anders angemerkt, "in Text und Fußnoten um eigene Übersetzungen auf der Grundlage von Lemkins englischsprachigem Original beziehungsweise den englisch- und spanischsprachigen Anmerkungen der Herausgeber der jeweiligen Ausgaben" handele. Hier wäre eine deutlichere und klarer nachvollziehbare Auseinanderhaltung der Mehrfacheditionen im Anmerkungsapparat sicherlich wünschenswert gewesen. Schade ist auch, dass die Bibliografie nicht nach Archivnachweisen, gedruckten und digitalen Quellen sowie Sekundärliteratur trennt und das Abbildungsverzeichnis (zum Glück nicht auch das Register) leider durchweg auf die falschen Seitenzahlen verweist.

In der - zumindest nach der Ordnung, Auswahl und Sortierung durch Frieze - weitestgehend chronologischen Erzählung, deren Inhalt an dieser Stelle nicht umfassend referiert werden soll, nimmt die Darstellung von Natur und Ländlichkeit sowie von Unbekümmertheit und langsam einsetzender Ernsthaftigkeit im Heranwachsen des Protagonisten einigen Raum ein. Ausgehend von jener ethnisch wie konfessionell pluralen Welt der seit der dritten Teilung Polen-Litauens westlichen Randgebiete des Zarenreiches (heute Belarus), versucht Lemkin wiederholt seinem Lebensweg retrospektiv teleologischen Sinn einzuschreiben, mal sehr direkt, mal subtiler. So stellt der Protagonist, der ein Dutzend Sprachen beherrscht haben soll, unter anderem fest: "Die Kürze der hebräischen Sprache mit ihren bedeutungsschweren Worten prägt bis heute meine Art, in anderen Sprachen zu schreiben und zu sprechen" (79); oder "Als ich zum ersten Mal Tolstoi las, begriff ich, dass an eine Idee zu glauben heißt, sie zu leben. Ich beschloss, Vegetarier zu werden" (83). Letzteres blieb eine kurze Episode im Leben eines, wohlgemerkt, Siebenjährigen. Nach den - bis auf die Umstände des nicht persönlich vorgetragenen, später immer wieder als Meilenstein seines Nachdenkens über Genozid betrachteten Beitrags Lemkins "Akte der Barbarei und des Vandalismus" zur Strafrechtskonferenz in Madrid 1933 - kaum behandelten 1920er und 1930er Jahren springt die Geschichte zu den - gerade auch erzählerisch - eindrucksvollsten Kapiteln, in denen Lemkins Flucht 1939-1941 aus Warschau im Mittelpunkt steht: durch Ostpolen (zu Fuß, per Kutsche und Zug) nach Litauen, von Lettland per Flugzeug nach Stockholm, später weiter mit dem Flugzeug nach Moskau und mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Vladivostok, mit dem Schiff nach Japan, von dort über den Pazifik nach Vancouver und weiter in die USA. Ebenfalls von großer Eindringlichkeit ist das Kapitel "Paris, 1948". In Art eines "erzählerischen Berichts" (296) wird hier das konkrete Ringen Lemkins um die Genozidkonvention im Umfeld der 3. Generalversammlung der UN und des vorbereitenden Rechtsausschusses dargestellt. Das letzte Kapitel des Buches fällt dann deutlich aus der Reihe: Auf wenigen Seiten werden in staccatoartigem Notizstil Lemkins extreme - neben gesundheitlichen - finanzielle Nöte Anfang der 1950er Jahre geschildert, während er weiterhin, gegen zunehmenden Widerstand, für die Ratifizierungen der Konvention kämpfte. Ein ausgearbeitetes Manuskript lag den Herausgeber*innen dazu nicht vor, und so endet die Autobiografie auch recht abrupt.

Nun könnte man fragen, wozu überhaupt diese Übersetzung und maßvolle Erweiterung der englischsprachigen Edition des auch im Original englischsprachigen Textes, seiner Form nach "teils Autobiografie, teils Biografie, teils Memoirenband und teils Bericht" (49)? Würde man voraussetzen, dass die meisten, die sich in einem akademischen oder auch schulischen Kontext mit der Geschichte von Völkermord und der Person Lemkin beschäftigen, auch Englisch lesen, könnte man die Übersetzung dieser Autobiografie vielleicht als überflüssig empfinden. Darüber ließe sich sophistisch streiten. Es scheint jedenfalls ein Anspruch der Edierenden gewesen zu sein, alle auftretenden, identifizierbaren Personen in Fußnoten mit ihren Lebensdaten, manchmal auch weiteren Informationen, zu versehen. Warum dies jedoch an so mancher Stelle ausbleibt, wird ebenso ihr Geheimnis bleiben (zum Beispiel bei Graf d'Oultremont, fälschlich "-ment", 286, oder Stuart Spencer, wobei eher John H. Spencer gemeint zu sein scheint, 307) wie auch die sich dem Rezensenten nicht ganz erschließende Relevanz der Anmerkung dazu, welche Nummer das von Lemkin 1948 in Paris bewohnte Hotelzimmer hatte (261). Während stellenweise inhaltliche Irrtümer oder einfache Schreibfehler des Originals mit großer Vorsicht und Respekt in den Anmerkungen zu berichtigen versucht wurden, bleiben einzelne, eher eigentümliche (eventuell auch bereits im Originalmanuskript vorhandene) Fehler unkommentiert. So wird an einer Stelle die podlachische Stadt Białystok in den "Süden Russlands" (82) verlegt, was wohl nur durch eine nachhaltige 90-Grad-Drehung der Landkarte plausibel würde.

Trotz dieser Monita ist es ein Verdienst der Herausgeber*innen, die verfügbaren Teile jenes für die Geschichte des Völkerrechts und der Idee von Humanität im 20. Jahrhundert so bedeutenden und letztlich jenseits von Spezialist*innen immer noch eher unbekannten Lebensweges einem deutschsprachigen Publikum in einem hochwertigen (und bezahlbaren) Buch zugänglich gemacht zu haben. Auch wenn man sich hier und da vielleicht eine etwas kritischere Editionspraxis gewünscht hätte, die noch konsequenter bestrebt ist, den vielen Aussparungen und Glättungen in der Erzählung einordnende und kontextualisierende Hinweise beizufügen, ist "Ohne Auftrag" in der vorliegenden Ausgabe eine wertvolle Lektüre für alle, die nicht nur auf die mittlerweile zahlreichen biografischen Arbeiten über Lemkin [2] zurückgreifen möchten.


Anmerkungen:

[1] Totally Unofficial. The Autobiography of Raphael Lemkin, hrsg. von Donna-Lee Frieze, New Haven / London 2013.

[2] Zuletzt Ryszard Szawłowski: Rafał Lemkin. Polski prawnik, twórca pojęcia "genocyd" (ludobójstwo) oraz inicjator i główny architekt konwencji ONZ o genocydzie z 9 grudnia 1948. Biografia intelektualna [Rafał Lemkin. Polnischer Rechtsanwalt, Schöpfer des Begriffs "Genozid" (Völkermord) und Initiator und Hauptarchitekt der UN-Konvention zum Genozid vom 9. Dezember 1948. Intellektuelle Biografie], Warszawa 2020.

Konstantin Rometsch