Christian Marx / Morten Reitmayer (Hgg.): Gewinner und Verlierer nach dem Boom. Perspektiven auf die westeuropäische Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 228 S., 5 Abb., ISBN 978-3-525-31118-9, EUR 60,00
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Die neuere zeithistorische Debatte über die Kerntendenzen und Wesensmerkmale der jüngsten Geschichte der westeuropäischen Gegenwartsgesellschaften ist erheblich durch das von den beiden Zeithistorikern Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael geprägte Narrativ eines mit der Deindustrialisierung zahlreicher Regionen verbundenen wirtschaftlichen 'Strukturbruchs' etwa ab der Mitte der 1970er Jahre - "nach dem Boom" - geprägt worden [1].
Der Band fragt leitmotivisch nach den Gewinnern und Verlierern jener Transformationsphase. Morten Reitmayer rekapituliert zunächst differenziert den Forschungsstand nicht allein der jüngeren zeithistorischen Forschung, sondern auch der zeitnahen Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaften über den Zeitraum nach Ende des in Westeuropa knapp drei Jahrzehnte andauernden Wirtschaftswunders. Er konstatiert aus der Vogelperspektive etwa ab dem Ende der 1970er Jahre eine generelle Zunahme der Einkommens- und Vermögensunterschiede in den Industriegesellschaften und damit eine "säkulare Trendumkehr" (9) gegenüber der Entwicklung in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Strukturbruchthese zunächst zu unterfüttern scheinen. Zugleich deuteten die Analysen der unterschiedlichen Forschungsansätze und -disziplinen auf eine gewissermaßen unterhalb dieses ökonomischen Makrobefunds angesiedelten Pluralisierung der Handlungsspielräume und -praktiken der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure hin.
Im Anschluss betrachtet Christian Marx die Multinationalisierung von Industrieunternehmen seit den 1960er Jahren am Beispiel der Chemieindustrie. Hier suchten die Konzerne ihr Heil zunehmend in Joint Ventures und Fusionen mit ausländischen Konkurrenten, um Produktionskosten zu senken und neue Märkte zu erschließen. Innerhalb der Betriebe habe es dabei Gewinner und Verlierer gegeben und die Belegschaften seien generell einem stetigem Anpassungs- und Flexibilisierungsdruck unterworfen worden. Teile der Beschäftigten seien zudem ab den 1990er Jahren durch outsourcing von den Stammbelegschaften der nun entstandenen internationalen Großkonzerne abgekoppelt worden; hier liegt sicherlich ein Grund der seitdem zunehmenden Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen.
Lutz Raphael versucht im Anschluss zu klären, was denn eigentlich mit dem Begriff der "Deindustrialisierung" gemeint sei, um dann in einem zweiten Schritt sechs Dimensionen analytisch zu unterscheiden, nach denen sozialgeschichtlich Gewinner und Verlierer dieser Transformation zu bestimmen wären, nämlich Inklusion/Exklusion in den Arbeitsmarkt, Armut/Ungleichheit, dann das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, die Qualität industrieller Arbeit und schließlich deren soziale Anerkennung. Raphael konstatiert anhand dieses Analyserasters starke Unterschiede der Entwicklung in den westeuropäischen Industriestaaten und plädiert hinsichtlich künftiger Forschungsbemühungen für regionale Perspektiven unterhalb des Nationalstaats.
Dies aufgreifend fragt Marc Bonaldo in seinem Beitrag unter dem Titel "'Alles außer Hochdeutsch'?" nach den Anpassungsprozessen, mit denen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteure in der Region Stuttgart den strukturellen Herausforderungen seit den frühen 1980er Jahren begegneten. Nach Bonaldo gelang es der Region mit ihren Leitbranchen Fahrzeugbau, Maschinenbau und Elektrotechnik, die mit den beiden "Ölpreisschocks" verbundenen ökonomischen Verwerfungen "verhältnismäßig gut" zu überstehen (86). Die Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar war noch im Jahr 1988 mit ungebrochenem Zukunftsoptimismus davon ausgegangen, "dass die Region die anstehende Europäisierung [...] gut bewältigen werde und der schwäbische Wirtschaftserfolg auch für die Zukunft garantiert sei" (87). Keine Erwähnung finden hier merkwürdigerweise die Auseinandersetzungen um die 35-Stunden-Woche, die 1984 einsetzten und mit deren stufenweiser Durchsetzung es der IG Metall gelang, die Auswirkungen des Strukturwandels auf die Beschäftigten in ihrem Organisationsbereich weitgehend abzufedern.
Die folgenden sechs Beiträge widmen sich dann spezifischen Phänomenen nach dem Boom unter verschiedenen Fragestellungen und aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln.
Arndt Neumann identifiziert in "Die Containerwelle. Veränderungen der Hafenarbeit in Hamburg nach 1968" mit Recht den (computergesteuerten) Container als eine der "entscheidenden technologischen Grundlagen des jüngsten Globalisierungsschubs" (105). Die Transportrevolution verdrängte die gering qualifizierten Scheuerleute und Kaiarbeiter in rasantem Tempo aus der Hafenwirtschaft und damit auch aus den seit den frühen 1950er Jahren erstrittenen Tarifverträgen. Sie drängte viele von ihnen in die Logistikzentren mit ihren unregulierten, schlechter bezahlten und prekären Arbeitsverhältnissen.
Die Wechselwirkungen von Kultur und Politik sind das Thema der beiden Beiträge von Stefanie Middendorf und Eva Klos. Der Beitrag Ersterer über "Entscheidende oder erbärmliche Jahrzehnte? Krise und Komplexität der französischen Kulturpolitik seit den 1970er Jahren" beleuchtet die im Zeitverlauf stark variierenden Ziele und Trends der französischen Kulturpolitik im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts; Gewinner und Verlierer seien in diesem Prozess allerdings schwerlich zu identifizieren. Eva Klos untersucht die Kämpfe um Anerkennung und materielle Entschädigung ehemals zwangsrekrutierter belgischer, französischer und luxemburgischer Wehrmachtssoldaten und analysiert überzeugend den je nach Land unterschiedlichen Erfolg dieser Bemühungen.
Nachfolgend steht in Thomas Vetterles Beitrag über die Partizipationsmöglichkeiten umweltpolitischer Akteure das Großherzogtum Luxemburg im Fokus. Letztlich seien von der dortigen Umweltbewegung in den 1970er Jahren eingeforderte politische Mitspracherechte durch die Gründung des "Conseil Supérieure de la Protection de la Nature" als Schnittstelle zur Ministerialbürokratie institutionalisiert und in das stark korporatistisch geprägte politische System integriert worden.
Timo Kupitz befasst sich anschließend mit der politischen Emanzipation bengalischer Migranten im Vereinigten Königreich am Beispiel des zwei Wahlkreise umfassenden Londoner Stadtteils Tower Hamlets. Er beurteilt ihre Bestrebungen gegen rassistische Vorbehalte und Diskriminierungen (nicht zuletzt innerhalb der Labour Party) und für eine politische Partizipation letztlich als bedingte Erfolgsgeschichte.
Marc Meyer befasst sich im Anschluss gewissermaßen aus entgegengesetzter Perspektive mit den Veränderungen der Politikangebote der SPD in Frankfurt am Main ab den frühen 1970er Jahren bis in die späten 1980er Jahre. Reformversuche und programmatische Neuorientierungen, um die Attraktivität der Partei angesichts einer sich ausdifferenzierenden Stadtgesellschaft zu steigern, seien letztlich daran gescheitert, dass sich diese "einerseits zu stark von ihrem Stammklientel entfernte und andererseits zu sehr mit den etablierten Machtstrukturen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verbunden war, als dass diese eine veritable Wahlalternative für die Anhänger der neuen sozialen Bewegungen hätte darstellen können" (226).
Insgesamt bietet der Sammelband in vielerlei Hinsicht interessante, thematisch allerdings sehr heterogene Perspektiven zur Historisierung der jüngeren Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Grenze zur Gegenwart. Eine tabellarische Aufarbeitung zentraler ökonomischer Daten hätte den Band bereichert. Als kritische Punkte zu bedenken sind etwa das durchschnittliche Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen in den westlichen Industriestaaten und die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen.
Die These eines Struktur- und Epochenbruchs im Verlauf der 1970er Jahre selbst wird durch die Beiträge unter der Hand erheblich relativiert. Angesichts der sich offenkundig beschleunigenden Klimakrise mit ihren katastrophalen Auswirkungen erscheint es ohnehin immer wahrscheinlicher, dass der eigentliche, nicht allein ökologische, sondern auch wirtschaftliche und soziale Strukturbruch nicht nur den westlichen Industriegesellschaften erst noch bevorsteht und vorausgegangene Brüche in der Zukunft weniger dramatisch erscheinen, als sie sich der Geschichtsschreibung heute darstellen.
Anmerkung:
[1] Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
Rainer Fattmann