Stefan Müller: Die Ostkontakte der westdeutschen Gewerkschaften. Entspannungspolitik zwischen Zivilgesellschaft und internationaler Politik 1969 bis 1989 (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 109), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2020, 429 S., ISBN 978-3-8012-4271-8, EUR 32,00
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Stefan Müller untersucht in seiner an der Universität Duisburg-Essen entstandenen und nun als Buch vorliegenden Habilitationsschrift die Kontakte des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) mit den Gewerkschaften Osteuropas während des Kalten Krieges. Dass es sich bei diesen Verbindungen um ein Desiderat der historischen Forschung handelt, macht Müller gleich zu Beginn deutlich. Tatsächlich sind Gewerkschaften bislang erst ansatzweise als außenpolitische Akteure in der Zeitgeschichte erforscht worden. In diese Forschungslücke stößt Müller mit seiner Arbeit vor. Neue Einsichten verspricht die Studie, weil der Autor die westdeutschen Gewerkschaften als transnational agierende, zivilgesellschaftliche Akteure begreift.
Rechnet man Einleitung und Schluss mit ein, so besteht die Studie aus insgesamt sieben Kapiteln, die chronologisch der Genese der DGB-Ostkontakte folgen. Im zweiten Kapitel führt Müller seine Leserinnen und Leser zügig vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die späten 1960er Jahre. Er konturiert die historisch gewachsene internationalistische Orientierung der Gewerkschaften und zeigt, wie die Versuche, Kontakte zu den Staatsgewerkschaften in Osteuropa aufzunehmen, in den 1960er Jahren zunahmen. Hatte der DGB schon seit den 1950er Jahren ein informelles Vorschlagsrecht für die Sozialreferentenstellen an den deutschen Botschaften ausgeübt, lässt sich ab 1966 - dem Jahr, als Willy Brandt Außenminister in der Großen Koalition wurde - eine intensive Berichtstätigkeit an das Auswärtige Amt nachweisen. Für 1969/70 dokumentiert Müller Gespräche zwischen führenden DGB-Vertretern und der Leitung des Auswärtigen Amts um Brandt, Egon Bahr und Ralf Dahrendorf, in denen sich die Bundesregierung bereit erklärte, die Auslandskontakte des DGB zu fördern. Diesen Beginn der gewerkschaftlichen Ostpolitik untersucht Müller im dritten Kapitel.
Der Autor ordnet die Ostpolitik des DGB überzeugend in das bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Streben der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung ein, sich in die politische und gesellschaftliche Ordnung Deutschlands zu integrieren. Er schlägt vor, die Kontakte mit osteuropäischen Gewerkschaften als Beleg zu verstehen, dass die Integration der Gewerkschaften in die Außenpolitik der Bundesrepublik in den 1970er Jahren erfolgreich verlief. Als am 7. Dezember 1970 der DGB-Vorsitzende Heinz Oskar Vetter mit Kanzler Brandt zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrages nach Polen reiste, sei dies für alle sichtbar geworden.
Müller fördert in diesem dritten Kapitel zahlreiche neue Erkenntnisse über die Bedeutung der Referentenebene im DGB-Vorstand sowie die Bildungsarbeit des Dachverbands zutage. Es waren nicht unbedingt die Vorstandsmitglieder, die die entscheidenden Impulse für eine Vernetzung mit osteuropäischen Gewerkschaften gaben, sondern der Leiter der Internationalen Abteilung Erwin Kristoffersen, der zum Schrittmacher und Organisator der Kontakte wurde. Auch ein neuer Aufbruch in der politischen Bildungsarbeit spielte eine Rolle. So führten die DGB-Bildungsträger zahlreiche Wochen- und Wochenendseminare zur DDR durch. Allein 1968 waren es 61 Schulungen mit insgesamt 2.037 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Müller vermutet, dass die meisten Kreisvorsitzenden einen solchen Kurs besucht haben.
Im vierten Kapitel rekapituliert Müller die Gewerkschaftsbeziehungen im weiteren Verlauf der 1970er Jahre. Wenig überraschend eröffnete die Ratifizierung der Ostverträge auch den Gewerkschaften neue Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen. Der Autor argumentiert, dass der DGB-Bundeskongress, der im Juni 1972 in West-Berlin stattfand, "ein kleiner Meilenstein in den Ost-West-Beziehungen" (137) gewesen sei, da die osteuropäischen Gewerkschaften mit ihren Delegationen die Veranstaltung des DGB in der geteilten Stadt akzeptierten. Müller betont, dass sich die Gewerkschaftsbeziehungen nach Polen besonders konfliktträchtig gestalteten. Dies hatte mit den anhaltenden Auseinandersetzungen um die Anerkennung der polnischen Westgrenze zu tun. Mit dem ostdeutschen Dachverband FDGB war das Gespräch ebenfalls nicht einfach, denn dessen Funktionäre versuchten, die westdeutschen Gewerkschaften auseinanderzudividieren.
Im fünften Kapitel befasst sich Müller meinungsstark mit den Ereignissen um die polnische Gewerkschaft Solidarność, die die Logik der Entspannungspolitik auf die Probe stellten. Nur zu Beginn der Krise in Polen fühlte sich die DGB-Zentrale an den Grundsatz der Nichteinmischung gebunden. Bald machte sie sich daran, materielle Hilfsgüter (vor allem Geräte zum Kopieren von Audiokassetten) zu sammeln und nach Polen zu schicken. Am Ende des Jahres 1981 war der DGB international "in materieller Hinsicht zum zweitgrößten Unterstützer von Solidarnosc" (247) geworden, wie Müller feststellt; nur die amerikanischen Gewerkschaften gaben mehr. Der Autor sieht diese Entwicklung überaus kritisch. Er argumentiert, dass der DGB damit von der Logik der Entspannungspolitik abgewichen sei und sich in innerpolnische Angelegenheiten eingemischt habe, weil er die von ihm gesammelten Hilfsgüter zur Verteilung direkt an Solidarność schicken wollte. Auch wenn es dazu aufgrund der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 schließlich nicht mehr gekommen sei, hätte der DGB mit diesem Plan Solidarność aufgewertet und zu einem sozialpolitischen Gegenspieler des Regimes gemacht.
Die 1980er Jahre stehen schließlich im Mittelpunkt des sechsten Kapitels. Zunächst beschreibt Müller die "Zerreißprobe" (284), in der sich der DGB und seine Einzelgewerkschaften in der Debatte um die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen und aufgrund des Erstarkens der Friedensbewegung befanden: Auf der einen Seite empfanden viele Gewerkschafter eine Loyalität zur sozialdemokratisch geführten Bundesregierung, die in der Person von Kanzler Helmut Schmidt einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen des NATO-Doppelbeschlusses hatte. Auf der anderen Seite aber fühlten sie sich der Friedensbewegung und ihrem Kampf gegen Aufrüstung und Militarismus verbunden. Als die Demonstrationen gegen die sogenannte Nachrüstung im Herbst 1983 ihren Höhepunkt erreichten, zeigte sich, dass Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und Friedensaktivistinnen und -aktivisten häufig kaum mehr klar voneinander zu trennen waren.
Zur neuen Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl pflegten die westdeutschen Gewerkschaften ein konstruktives Verhältnis. Dies galt auch für die Fortsetzung der Kontakte nach Osten, die das Auswärtige Amt über den Regierungswechsel 1982 hinweg (Hans-Dietrich Genscher blieb Außenminister) guthieß. Vor allem ab der Mitte der 1980er Jahre intensivierten sich die Netzwerke des DGB mit den Gewerkschaften in der Sowjetunion, in Polen und der DDR. Zunehmend getragen von der Überzeugung, dass die deutsche Teilung von Dauer sein würde, taten sich Gewerkschaftsvertreter in der DDR und der Bundesrepublik einfacher, nun auch über ideologische Fragen zu diskutieren. Dennoch müsse man festhalten, dass die Kontakte nach Osteuropa gemessen an den Beziehungen anderer zivilgesellschaftlicher Gruppen schon zahlenmäßig eher marginal waren. Zwischen 1970 und 1975 beispielsweise entsandte der DGB-Vorstand insgesamt 30 Delegationen in die Sowjetunion, elf nach Ungarn, jeweils acht nach Polen und Rumänien und sieben in die ČSSR. Allein die evangelischen Kirchen waren deutlich aktiver.
Mit dem Buch von Stefan Müller liegt eine systematische Aufarbeitung und Analyse der Ostkontakte der westdeutschen Gewerkschaften vor, die exemplarisch die Handlungspotenziale und -grenzen von Nichtregierungsorganisationen im Kalten Krieg ausleuchtet. Die Studie deutet die westdeutschen Gewerkschaften als parastaatliche Akteure und zeigt, wie fluide die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik waren und sind.
Jan Hansen