Michael Stolberg: Gelehrte Medizin und ärztlicher Alltag in der Renaissance, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, VIII + 580 S., ISBN 978-3-11-070732-8, EUR 89,95
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Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Monographie sind die weit über 4.000 Seiten umfassenden Aufzeichnungen des nahezu unbekannten Arztes Georg Handsch. Über viele Jahre hinweg hat der 1529 in Leipa, dem heutigen Česka Lipa, geborene Handsch in persönlichen Notizbüchern Beobachtungen, Ratschläge, Rezepturen und vieles andere mehr festgehalten, was ihm für seine eigene medizinische Praxis hilfreich und bewahrenswert erschien. Da diese Notizen nicht für eine Veröffentlichung gedacht waren, enthalten sie neben den Darstellungen erfolgreicher Behandlungen auch schonungslose Berichte von Fehlern, die ihm und seinen Kollegen unterlaufen sind. Damit ermöglicht dieser ungewöhnlich reichhaltige Quellenkorpus einen Blick hinter die glänzende Fassade, die gelehrte Ärzte der Renaissance mit ihren Publikationen gerne aufzubauen versuchten.
Der Würzburger Medizinhistoriker Michael Stolberg nutzt die Chance, die diese Quelle bietet, auf überzeugende Weise. Auf der Grundlage eigener jahrzehntelanger Forschungen und einer umfassenden Kenntnis der einschlägigen Primärquellen, insbesondere der von ihm betreuten Sammlung zeitgenössischer Ärztebriefe, gelingt es Stolberg über die individuelle Perspektive seines Protagonisten hinausgehend, die medizinische Welt von studierten Ärzten, approbierten Heilern und Laien der Renaissance zu rekonstruieren.
Die Fülle der Einzelaspekte wird klar strukturiert in drei großen Themenblöcken präsentiert. Teil I widmet sich der Ausbildung des gelehrten Arztes. Orientiert am Werdegang von Georg Handsch stehen dabei die Lehrmethoden der italienischen Universitäten im Vordergrund. Anders als etwa an den Hochschulen im Deutschen Reich, wurde in Italien neben klassischen Vorlesungen zur Humoralpathologie auch Unterricht am Krankenbett angeboten. Gerade wegen dieser Verbindung mit der praktischen Medizin bemühten sich viele deutsche Ärzte darum, ihr Studium an einer italienischen Universität abzuschließen. Dass den angehenden Ärzten in dieser prägenden Phase neben theoretischem Wissen und praktischen Fähigkeiten auch der Habitus des gelehrten Mediziners vermittelt wurde, führt Stolberg in einem eigenen Unterabschnitt anschaulich aus. Mit der Verwendung des Lateinischen, mit der Pflege gelehrter Korrespondenzen oder der Stilisierung in aufwändig gestalteten Portraits praktizierten Ärzte eine Selbstdarstellung, die Stolberg in Anlehnung an Stephen Greenblatt als self-fashioning bezeichnet (119).
Teil II, der mit 270 Seiten umfangreichste Themenblock, widmet sich der ärztlichen Heilkunde. In einer auch für Nicht-Mediziner verständlichen Sprache breitet Stolberg hier das damalige medizinische Wissen aus, erläutert die gängigen Vorstellungen von Krankheitsursachen und die davon abgeleitete therapeutische Praxis. Hier wird viel Bekanntes zusammengetragen. Der praxeologische Ansatz, dem Stolberg folgt, führt allerdings zur Relativierung einiger Positionen der älteren Forschung. Das gilt nicht nur für die zentrale Bedeutung der Harnschau und die wachsende Bedeutung der Empirie, sondern vor allem für die häufig erwähnte Lehre von der Entstehung der Krankheiten aus einem Ungleichgewicht der Säfte und Qualitäten, die sich - laut Stolberg - "im Blick auf die alltägliche Praxis als weitgehend irrelevant" (126) erweist. Sowohl bei Ärzten als auch bei Laien sei vielmehr die Vorstellung verbreitet gewesen, dass Krankheiten durch eine Krankheitsmaterie hervorgerufen wurden. Die Hauptaufgabe des Arztes bestand demzufolge darin, dafür zu sorgen, dass diese krank machende Materie durch eine wohldosierte Medikamentierung, durch die Verabreichung von Abführmitteln oder Klistieren durch das Öffnen von Eiterbeulen sowie den zum richtigen Zeitpunkt und an der richtigen Stelle durchgeführten Aderlass aus dem Körper abgeleitet wird.
Mit dieser praktischen Tätigkeit des Arztes befasst sich Teil III. Unter der Überschrift "Ärzte, Patienten und medikale Laienkultur" wird das ärztliche Handeln allerdings nicht isoliert betrachtet, sondern das Agieren der Patienten und das Wirken approbierter und nichtapprobierter Heiler mit berücksichtigt. Noch etwas eindrücklicher als in den vorangegangenen Abschnitten gelingt es Stolberg hier, das alltägliche Ringen um Gesundheit sichtbar und nachvollziehbar werden zu lassen. Die Aufgaben eines Stadtarztes, die Karriereoptionen von Leibärzten an Fürstenhöfen, die Tätigkeitsfelder von Badern und Barbieren sowie die Bedeutung von Hexerei und Magie sind in der medizinhistorischen Forschung zwar wiederholt dargestellt worden. Selten wurde aber so deutlich wie hier vor Augen geführt, dass die wiederholt postulierten Gegensätze zwischen akademisch gebildeten, theorieorientierten Physici einerseits und auf ihre praktische Erfahrung bauenden Laienheilern andererseits in der alltäglichen Praxis eine weit geringere Rolle spielten, als bisher angenommen. Georg Handsch liefert einmal mehr die konkreten Belege dafür. So legt er nicht nur selbst Hand an, wenn es darum ging, den Bauchraum eines Patienten durch Tasten zu untersuchen, er dürfte sogar einzelne Patienten persönlich zur Ader gelassen haben. Er scheute sich auch nicht, von Praktikern zu lernen und Ratschläge von erfahrenen Wundärzten aufzunehmen. Da sich Stolberg in diesem Abschnitt überwiegend auf die Notizen seines Protagonisten stützt, werden weitere Forschungen insbesondere im norddeutschen Raum zeigen müssen, wie weit der vorgelegte Befund generalisiert werden kann. Das gilt auch für die abschließende, auf den ersten Blick durchaus überzeugende These, dass bei allen Unterschieden in gesellschaftlichem Ansehen und in praktischem Handeln zwischen den einzelnen Akteuren auf dem medizinischen Markt von einem gemeinsamen medizinischen Weltbild auszugehen ist, das alle Beteiligten teilten.
Michael Stolberg bietet mit seiner Monographie eine verständliche Zusammenschau des aktuellen Forschungsstandes, beleuchtet erstmals umfassend die ärztliche Praxis und regt mit einer ganzen Reihe von Relativierungen älterer Forschungspositionen zu weiteren Untersuchungen an. Wer sich mit dem medizinischen Alltag im Süden des Reiches während des 16. Jahrhunderts beschäftigt, wird an diesem Werk nicht vorbeikommen. Warum bei einer wissenschaftlichen Abhandlung dieser Qualität allerdings auf ein professionelles Lektorat verzichtet wurde, erschließt sich dem Rezensenten nicht. Es hätte die überdurchschnittlich zahlreichen Fehler vermieden und es hätte wohl auch zu einem Register geführt, das zumindest alle erwähnten Ortsnamen enthält. In einer zweiten Auflage, die diesem Buch sehr zu wünschen ist, ließen sich diese eher handwerklichen Monita allerdings leicht beheben.
Peer Frieß