Anke Walter: Time in Ancient Stories of Origin, Oxford: Oxford University Press 2020, 282 S., ISBN 978-0-19-884383-2, GBP 75,00
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Die fundamentale Bedeutung von Gründungsgeschichten für das Selbstverständnis antiker Gemeinschaften sowie deren Zeit- und Ordnungsvorstellungen steht außer Frage. [1] Durch Merksprüche wie "753 - Rom schlüpft aus dem Ei" sind ätiologisch begründete Datierungspraktiken und Denkfiguren in antiken literarischen Texten, insbesondere in der Geschichtsschreibung ebenfalls einem größeren Publikum in Grundzügen bekannt. Angesichts der aktuell florierenden altertumswissenschaftlichen Forschung zu Chronologie und Temporalitäten [2] nimmt es daher wunder, dass die Fachliteratur, die sich griechischen und römischen Ursprungserzählungen (αἰτία) aus einer dezidiert philologischen Perspektive zuwendet, eher überschaubar anmutet. [3] Umso willkommener ist daher die zu besprechende Publikation der Klassischen Philologin Anke Walter, die mit einer umfangreichen Einzeluntersuchung dazu beiträgt, diese Lücke zu schließen. Das Buch ist bei Oxford University Press erschienen und stellt die überarbeitete Fassung einer Rostocker Habilitationsschrift dar.
Um dem Thema in seiner Gänze gerecht zu werden, hat sich Anke Walter für einen grundsätzlich chronologischen Aufbau der Arbeit mit vignettenartigen Einzelanalysen entschieden. Auf eine methodologisch-theoretische Einführung (1-39) folgen so insgesamt vier Untersuchungskapitel mit Fallstudien zu Ursprungserzählungen in archaischer (40-89), hellenistischer (90-136), augusteischer (137-192) und spätantik-christlicher (193-225) Literatur. Ein Schlusskapitel (226-229) fasst nicht nur Thesen und Ergebnisse zusammen, sondern adressiert zudem offene Fragen. Diesem Gliederungsschema liegt die Annahme zugrunde, dass aitia in der antiken Literatur ein wirkmächtiges narratologisches Instrument darstellten, um einerseits Zeitebenen - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - miteinander zu verbinden, andererseits Zeitvorstellungen, zum Beispiel von Kontinuität oder Wandel, zu transportieren (14-22). Mittel hierfür ließen sich bereits auf linguistischer Ebene, in den sogenannten ätiologischen Formeln, beispielsweise 'von da an', 'seitdem' oder 'bis dahin', leicht feststellen. Je nach der 'Blickrichtung' der Erzählung, entweder in die Vergangenheit oder hin zur Gegenwart, unterscheidet Walter zwischen analeptischen aitia ("flashbacks", 18) und proleptischen aitia ("flashforwards", ebenda), wobei letzteren besondere Aufmerksamkeit innerhalb ihrer Studie gilt. Schließlich böten solche Prolepsen - so lautet eine der Kernthesen Walters - der Autor-Instanz einzigartige Chancen, Bezüge zur Leser- und Hörerschaft herzustellen und die Position des Textes auf (literatur-)historischer Ebene auszuloten. Wie diese Reflexionen jeweils ausfielen und welche Zeitvorstellungen mittels Ursprungserzählungen hergestellt würden, sei schließlich abhängig vom jeweiligen Standort der Sprecher und Autoren.
Exemplarisch zeigt Walter insbesondere in den beiden Kapiteln zu Ursprungserzählungen in der griechischen Literatur auf, wie sich narratologische Temporalitätskonstruktionen mit historischen Zeit- und Ordnungskonzepten überschneiden. In detaillierten Einzelanalysen zu ätiologischen Narrativen in der Ilias, in Hesiods Theogonie sowie im homerischen Hermes-Hymnus arbeitet sie so eine dominante Vorstellung von olympischer Kontinuität heraus, der es auf Erden nachzueifern gelte (89). Diesem archaischen Kontinuitätsideal stellt sodann das Folgekapitel zu Ursprungserzählungen in hellenistischer Literatur eine stärkere Orientierung an menschlichen Kontingenzerfahrungen sowie allgemein historischem Wandel gegenüber. Paradoxerweise, so beobachtet Walter, baue diese Temporalitätskonstruktion zumindest in den Werken des Universalhistorikers Ephoros und des Dichters Kallimachos auf aitia auf, insofern letztere singuläre Momente des Wandels einfingen. Etwas anders gestalteten sich dagegen ätiologische Narrative in den Argonautika des Apollonios Rhodios, da diese stärker die Kontinuität zwischen Götter- und Heroenwelt betonten (135f.). Andererseits konstruierten die Argonautika mehr oder minder präzise Angaben zur "navigational time" (92), so dass sich hier ein Wechselspiel von Linearem und Zirkulärem, von Dauer und Dynamik ergebe.
Noch stärkere Differenzierungen nach literarischer Programmatik erkennt Walter wiederum im Kapitel zu römischen Ursprungserzählungen, das Livius' Ab urbe condita, Vergils Aeneis und Ovids Fasti in den Blick nimmt. Während Livius ätiologische Geschichten mit exempla vermenge, also auf Wiederholung und Vergegenwärtigung vergangener Tugendtaten dränge, ständen die expliziten Ätiologien im römisch-ätiologischen Epos schlechthin im Zeichen des fatum und kündeten von der Erfüllung göttlichen Willens in der Welt unter der Herrschaft des Augustus. In den Fasten dagegen erscheine die (augusteische) Gegenwart eher ephemer als ewig - ein Umstand, der sowohl der linearen Bewegung von Tag zu Tag innerhalb des römischen Kalenders ("horizontal axis", 178) als auch der seltenen Beständigkeit ätiologischer Narrative auf der "vertical axis" (ebenda) geschuldet sei. "The organization of the Roman year [...] reflects the changing concern of Rome's foremost rulers - a process that keeps continuing." (181) So detailliert, facettenreich und spannend Walters Analysen zu Ursprungserzählungen in der augusteischen Literatur im Allgemeinen, Ovids Fasten im Besonderen auch ausfallen, dürften sich hier insbesondere die Historikerinnen und Historiker innerhalb der Leserschaft weitergehende Kontextualisierungen der Einzelbeobachtungen wünschen. Fragen, die wohl auch aus Rücksicht auf die Kapitellänge offenbleiben, berühren beispielsweise das Wechselspiel von Zeitordnung, Herrschaft und Autorität im Spiegel literarischer und inschriftlicher Fasten oder die Aufstellung von Zeitmessern (Stichwort: Obelisk) in augusteischer Zeit. Ähnliches gilt auch für das abschließende Kapitel zur Polyphonie ätiologischer Narrative in der christlichen Literatur der Spätantike. [4] Auch hier gelingen Walter überzeugende Untersuchungen zu Fallbeispielen aus Prudentius' Peristephanon und Orosius' Historiae. So arbeitet sie beispielsweise eine kaum überblickbare Verflechtung, letztlich gar Auflösung von Zeitebenen angesichts der Erwartung des Reichs Gottes bei Prudentius heraus. Dies wird mit der Tendenz in den Historien des Orosius kontrastiert, aitia von Verfall und Zerstörung fest in der menschlichen Chronologie zu verankern und diese zu monumentalen Ankündigungen des Jüngsten Gerichts zu stilisieren. Dennoch muss sich jede Arbeit der Frage nach der Repräsentativität ihrer zugrunde gelegten Fallbeispiele stellen; diese wird jedoch von Walter in Kapitel fünf leider nicht adressiert. [5]
Trotz dieser Kritikpunkte erweist sich "Time in Ancient Stories of Origin" insgesamt als eine äußerst anregende und lehrreiche Lektüre. Die Untersuchung besticht nicht nur durch die genauen philologisch-literaturwissenschaftlichen Einzelanalysen, sondern vor allem durch die ausgewogene Thesenbildung auf Metaebene. Walters Einschätzung, dass literarische Temporalitätskonstruktionen auf historische Zeitkulturen gründen, diese reflektieren und gegebenenfalls kommentieren, kann die Rezensentin nur beipflichten. Dem Buch ist eine breite Rezeption im Feld, auch über Fächergrenzen hinweg zu wünschen.
Anmerkungen:
[1] Aus der Vielzahl an Literatur seien nur einige Titel ausgewählt. Siehe hierzu grundlegend Gehrke, Hans-Joachim (Hg.): Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg 2001 (Identitäten und Alteritäten; 7) sowie Gehrke, Hans-Joachim: Myth, History, and Collective Identity. Uses of the Past in Ancient Greece and Beyond, in: Nino Luraghi (ed.): The Historian's Craft in the Age of Herodotus, Oxford 2001, 286-313. Aus jüngerer Zeit siehe Mac Sweeney, Naoíse: Introduction, in: Naoíse Mac Sweeney (ed.): Foundation Myths in Ancient Societies. Dialogues and Discourses, Philadelphia / PA 2015, 1-19.
[2] Siehe unter anderem Färber, Roland / Gautschy, Rita (Hgg.): Zeit in den Kulturen des Altertums, Wien / Köln / Weimar 2020. Darüber hinaus nehmen Projekte aus der Verbundforschung, zuvorderst am Berliner Einstein Center "Chronoi", antike Zeitkulturen in den Blick.
[3] Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Sammelbände von Chassignet, Martine (éd.): L'étiologie dans la pensée antique, Turnhout 2008 (Recherches sur les Rhétoriques Religieuses; 9) und Reitz, Christiane / Walter, Anke (Hgg.): Von Ursachen sprechen. Eine ätiologische Spurensuche. Telling Origins. On the Lookout for Aetiology, Hildesheim 2014 (Spudasmata; 162).
[4] Dass Walter es bevorzugt, von frühchristlicher anstatt von spätantiker christlicher Literatur zu sprechen, irritiert ein wenig, da jene Bezeichnung für Texte aus vorkonstantinischer Zeit geläufiger ist.
[5] Auch auf Makroebene stellt sich diese Frage. Zwar begründet Walter auf Seite 29f. durchaus, weshalb sie Ursprungserzählungen in archaischer, hellenistischer, augusteischer und spätantik-christlicher Literatur untersuchen möchte und welche Vorzüge die ausgewählten Fallstudien aufweisen. Indes wird dort nicht näher erläutert, weshalb die griechische Geschichtsschreibung aus klassischer Zeit, insbesondere Herodots Historiae ausgeklammert werden, obgleich die Bedeutung ätiologischer Denkfiguren in der herodoteischen Historiographie bereits auf Seite 6f. gewürdigt wurde.
Tabea L. Meurer