Étienne Doublier: Ablass, Papsttum und Bettelorden im 13. Jahrhundert (= Papsttum im mittelalterlichen Europa; Bd. 6), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017, 752 S., ISBN 978-3-412-50806-7, EUR 105,00
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Das Reformationsjubiläum 2017, das sein Datum an der Publikation der 95 Thesen gegen den Ablass von Martin Luther ausgerichtet hat, war auch ein Motor für Ablass-Forschung. Diese richtete sich vorrangig auf den Zusammenhang von Ablasswesen und Reformation. Gewichtige Schriften wurden diesbezüglich in den vergangenen Jahren verfasst, von denen an dieser Stelle zumindest der Tagungsband zu spätmittelalterlichen Ablasskampagnen [1] und das innovative Buch Berndt Hamms [2] genannt seien, oder werden noch erscheinen. [3] Die - je nach Perspektive - Blüten oder Auswüchse der Ablassfrömmigkeit und des Ablasshandels um 1500 hatten jedoch tief reichende Wurzeln und zum Zeitpunkt ihrer reformatorischen Kritik eine lange Geschichte hinter sich.
Den Übergang von den Wurzeln zur festen Etablierung des Ablasses in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters nimmt die Dissertation von Étienne Doublier in den Blick. Sie widmet sich - wie im Titel genannt - dem Zusammenspiel von Ablass, Papsttum und Bettelorden im 13. Jahrhundert. Dass die Popularisierung und der Ausbau des Ablasswesens im 13. Jahrhundert mit der Entstehung und dem rasanten Wachstum der Bettelorden (vornehmlich der Dominikaner und Franziskaner) einerseits sowie der Entwicklung der Institution des Papsttums andererseits 'irgendwie' zusammenhängen, wusste man bereits. Wie die vielfältigen Verflechtungen und Interferenzen zusammenwirkten, das ist von Doublier nun in vorbildlicher Weise aufgearbeitet und dargestellt worden.
Aufarbeitung und Darstellung - damit sind zwei Stichworte genannt, mittels derer sich das große Verdienst der Arbeit Doubliers zusammenfassen lässt. Verwiesen ist damit zum einen auf das reiche Quellenstudium, das der Arbeit zugrunde liegt, zum anderen auf die sehr gut nachvollziehbare und geordnete Präsentation der Ergebnisse in angenehmem Stil, ohne simplifizierend zu wirken. Was die Quellen anbelangt, so stützt sich die Untersuchung auf die Sichtung von nicht weniger als knapp 4000 päpstlichen Ablassurkunden im Zeitraum zwischen dem Vierten Laterankonzil 1215 und dem Konzil von Vienne 1312 (vgl. 205-211). Davon wurden annähernd 1500 Urkunden an Bettelorden ausgestellt. Bereits diese Zahlen deuten die Bedeutung der Bettelorden für das Ablasswesen an. Als Appendix bietet das Buch eine Auflistung sämtlicher Bettelorden gewidmeter Ablassurkunden, geordnet nach Ablässen für Almosen und Kirchenbesuch (327-573) und solchen für Kreuzzug, Predigt und Inquisition (574-660), mit Ausstellungsdatum und -ort, kurzer Inhaltsangabe, Incipit der Urkunde und Verweis auf Regesten, Drucke und Literatur - eine Fundgrube für weitere Forschungen! Auch wenn der Autor betont, Vollständigkeit sei damit nicht erlangt, da zusätzliche Archivrecherchen weitere Ablassurkunden zutage fördern könnten und natürlich nicht alles überliefert sei (vgl. 323f.), stellt die nach heutigem Kenntnisstand umfassende Sichtung und systematische Auswertung der Papsturkunden eine enorme Leistung dar.
Die eigentliche Darstellung umfasst, gerahmt durch eine Einleitung (11-22) und ein Resümee mit Ausblick (314-322), vier Kapitel. Das erste Kapitel "Papsttum, Ablass und Bettelorden: einleitende Zusammenhänge" (23-71) führt in die Konstellation des frühen 13. Jahrhunderts, also den Kontext des Vierten Laterankonzils, vor dem Hintergrund der Entwicklung des Bußwesens ein. Das zweite Kapitel "Die Entfaltung des Ablasswesens im 13. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Mendikanten" (72-206) erzählt die durchaus nicht lineare, sondern wechselvolle Geschichte des Ablasswesens anhand der päpstlichen Urkunden und der Bedeutung der Bettelorden. Dabei werden vier Phasen unterschieden: In der durch das Pontifikat Gregors IX., des ehemaligen Ordensprotektors der Franziskaner Hugo von Ostia, eingeleiteten erste Phase (1227-1241) erscheint das Papsttum erstmalig prominent als Akteur des Ablasswesens. Die zweite Phase (1243-1268) ist von einer deutlich ausgeprägten Dominanz der Bettelorden im Blick auf das päpstliche Ablasswesen geprägt. Es folgt eine Phase der Stagnation (1268-1288), in der zugleich folgenreiche Neuerungen entstehen - insbesondere durch die Etablierung des Portiuncula-Ablasses als Plenarablass. Einen neuen Höhepunkt verzeichnet die vierte Phase (1288-1312), die maßgeblich durch den ersten Franziskaner als Papst, Nikolaus IV., initiiert wurde, der eine regelrechte Ablasspolitik betrieben habe (vgl. 181).
Das dritte Kapitel "Päpstliche Ablässe und Bettelorden im 13. Jahrhundert: strukturelle Aspekte" (207-296) geht noch einmal den gesamten Weg durch das 13. Jahrhundert, wobei die Ausstellung von Ablassurkunden durch die einzelnen Päpste nun statistisch und systematisch ausgewertet wird. Als Untersuchungskategorien dienen sowohl äußere Gesichtspunkte wie Anzahl, institutionelle und geographische Verteilung als auch inhaltliche Aspekte wie die vorgeschriebenen Ablasswerke und die Höhe der bewilligten Indulgenzen. Ein kurzes viertes Kapitel fragt schließlich nach Wechselwirkungen zwischen Ablasslehre und Ablasspraxis (297-313). Der vielleicht einzige Wermutstropfen dieser hervorragenden Arbeit aus Sicht des Kirchenhistorikers ist, dass der Ablasstheologie keine genauere Betrachtung zukommt. Das Ablasswesen wird nahezu ausschließlich unter funktionalen Aspekten in den Blick genommen. Bei ablasstheologischen Fragen werden ältere - freilich grundlegende - Arbeiten etwa von Nikolaus Paulus oder Martin Ohst herangezogen. Doch wären neue Erkenntnisse diesbezüglich angesichts der Leistung von Doublier auch zu viel verlangt und müssten eher als Aufgabenstellung für die eigene Zunft formuliert werden.
So ist abschließend festzuhalten: Für alle drei Forschungsfelder - Bettelorden, Papsttum und Ablass im 13. Jahrhundert - stellt die Dissertation von Doublier einen echten Meilenstein dar. Die umfassende Auswertung der päpstlichen Ablassurkunden unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung mit der Entwicklung der Bettelorden ist erhellend und überzeugend. Die Präsentation der Ergebnisse ist vorbildlich. Und die durch den Appendix gebotene Quellenerschließung stellt einen großen Dienst an der scientific community dar.
Anmerkungen:
[1] Andreas Rehberg (Hg.): Ablasskampagnen des Spätmittelalters. Luthers Thesen von 1517 im Kontext, Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 134, Berlin / Boston 2017.
[2] Berndt Hamm: Ablass und Reformation - Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016.
[3] Bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig ist das Projekt "Der Ablassstreit. Dokumente, Ökumenische Kommentierungen, Beiträge" am Entstehen, deren erster Band I.1 "Dokumente zum Ablassstreit. Vorgeschichte des Ablassstreits 1095-1517" in diesem Jahr 2021 erscheinen soll.
Jonathan Reinert