Oliver Ihl: Le premier portrait photographique. Paris 1837, Vulaines sur Seine: Editions du Croquant 2018, 238 S., ISBN 978-2-36512-155-2, EUR 34,65
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Le premier portrait photographique von Oliver Ihl hat heute unerwartete Aktualität wegen eines Aspekts gewonnen, der im Buch nur beiläufig erwähnt wird. Ihl ist Professor für historische Soziologie in Grenoble. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Geschichte der Fotografie. Seine Methodik entspricht der deutschen Kunstsoziologie. Sie ist aber logisch stringenter aufbereitet als die deutschen Ansätze. [1]
1998 erwarb ein Sammler auf einen Flohmarkt in Vanves eine Daguerreotypie mit der Aufschrift "M. Huet, 1837". Das Bild wäre also das erste fotografische Portrait, noch vor dem Selbstportrait des Amerikaners Robert Cornelius aus dem Jahr 1839. Die Entdeckung war umstritten (10-11). Es scheint sich aber aufgrund chemischer Analysen tatsächlich um eine Aufnahme von Daguerre zu handeln. Ihl gelingt es, anhand der Korrespondenz von Daguerre nachzuweisen, dass dieser tatsächlich bereits am 17. Januar 1838 "essais de portrait" in der neuen Technik erwähnte (91). Er hielt aber die Ergebnisse noch nicht reif für eine Veröffentlichung. In Le premier portrait photographique geht es in erster Linie darum zu erforschen, wer dieser Monsieur Huet war. Das Buch von Ihl beschäftigt sich jedoch nicht ausschließlich mit diesem Thema, sondern es handelt sich um mehrere kleine Untersuchungen, die thematisch nur lose miteinander verbunden sind und aus denen sich mosaikartig gewisse Erkenntnisse über das Milieu, die Arbeit und die Verfahrensweisen der frühen Fotografen ergeben.
Für die deutsche Kunstgeschichte wäre ungewöhnlich, dass der Autor die Entwicklung in der Familie Huet, einer großen Sippe von Tiermalern und wissenschaftlichen Zeichnern, über mehrere Generationen hinweg verfolgt und als "une lignée en déclin" beschreibt (21). Letztlich wird der soziale Abstieg einer Künstlerfamilie geschildert. Die Identifizierung der dargestellten Person auf dem Foto gelingt Ihl sehr überzeugend. Der erste Mensch, dessen Antlitz auf einer Fotografie festgehalten wurde, war Jean Baptiste Huet (1797-1864), ein Angesteller des Dioramas von Daguerre und gleichzeitig auch als Zeichner für das Muséum d'histoire naturelle tätig. Es ist typisch für Ihl, dass er am Schluss seiner Untersuchung behauptet, dass das erste Portrait der Welt einen Proletarier zeigen würde (228-231). Ganz abwegig scheint diese Behauptung nicht zu sein, denn Jean Huet war ein kleiner Angestellter im Diorama, den Daguerre als Modell für seine Portraitexperimente verwendete. Hingegen hat Daguerre einige Jahre später seine Kunden aus der Bourgeoisie in einer ganz anderen Weise portraitiert. Der Klassenunterschied lässt sich auch anhand der Kleidung und der Pose aufzeigen (229).
Einige Elemente der Methode von Ihl sind in der Kunstgeschichte und -soziologie völlig unüblich. So greift er, wie schon in seinen früheren Büchern, auf Stadtpläne und Bilder von Gebäuden zurück, um einen Hinweis auf die soziale Stellung von bestimmten Künstlern zu erhalten (25, 196, 200). Was auf den ersten Blick absurd erscheint, erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als sinnvoll, denn das Stadtviertel und die Größe des Hauses bzw. der Wohnung geben tatsächlich Auskunft über die soziale Stellung einer Person.
Im Buch wird aber noch eine ganz andere Geschichte erzählt, die im Buchtitel nicht erwähnt wird, und die nur ganz lose mit den fotografischen Experimenten Daguerres zusammenhängt. Es ist die Geschichte des Dioramas, einer Erfindung, die Daguerre bereits lange vor seinen fotografischen Versuchen gemacht hatte (103-122, 141-191). Das Diorama wird in der deutschen Literatur oftmals falsch beschrieben. Es handelt sich um die Vorform des Kinos: Zuschauer saßen in einem abgedunkelten Raum. Vor ihnen befand sich eine riesige Leinwand, die aus einer transparent gewebten Leinwand bestand, die auf zwei Seiten bemalt war. Mittels verschiedener Lichteffekte konnte auf den Bildern Bewegung oder die Veränderung einer Szene suggeriert werden. Die Möglichkeiten der Dioramen waren sehr groß. Die Vorführungen wurden von Licht, Musik, Ton und manchmal von einem Sprecher begleitet. Sie dauerten zwischen 10-15 Minuten und man konnte nach der Vorführung in zwei weitere Räume wechseln, in denen jeweils eine andere Darbietung mit einem anderen tableau stattfand. [2] Die "Filme", d. h. die Leinwände, waren genormt und wurden in gerollter Form in die Dioramen anderer Städte, beispielsweise London, geschickt. Daguerre, der dieses Medium aus der Theatermalerei entwickelt hatte, eröffnete im Juli 1822 sein erstes Diorama in Paris. Es handelte sich zunächst um ein boomendes Unternehmen, für dessen Finanzierung er eine Aktiengesellschaft gegründet hatte. Eigentlich war das Diorama die größere und logistisch aufwendigere Erfindung Daguerres, aber Anfang 1832 ging das Diorama in Paris plötzlich bankrott und die Firma konnte sich von diesem Schlag niemals wieder erholen. 1839 brannte das Diorama unter niemals vollständig geklärten Zuständen ab. Letztlich bedeutete der Brand des Pariser Dioramas auch das Aus für diese hochentwickelte Medientechnologie. Der Bankrott des Unternehmens im Jahr 1832 hatte zur Folge, dass sich Daguerre mit der Entwicklung der Fotografie zu beschäftigen begann, da er die Experimente auf kleinem Raum durchführen konnte und dafür wenige finanzielle Mittel benötigte.
In der Fotografiegeschichte hat man darüber gerätselt, was den Bankrott des Unternehmens zwischen den Jahren 1832 bis 1835 herbeigeführt haben könnte. Man vermutete, dass das Interesse des Publikums nachgelassen hätte. [3] Manchmal wird suggeriert, dass sich Daguerre verspekuliert hätte oder dass er eine zu aufwändige, großbürgerliche Lebensweise geführt hätte.
Während in der Frühzeit des Dioramas jedes Jahr ein neuer "Film" produziert wurde (der dann ein Jahr zu sehen war), bricht Anfang 1832 die Produktion plötzlich ab und das Unternehmen rutscht ins Minus. Le Tombeau de Napoléon à Sainte-Hèlène (1831), wurde über drei Jahre hinweg gezeigt, und Daguerre zeigte zum zweiten Mal La Ville d'Edimbourg, pendant l'Incendie (entstanden vor 1829). [4] Eine Wiederholung eines tableau hatte der Unternehmer vorher vermieden. Die Produktion kam erst ab 1834 langsam wieder in Gang, aber die "Filme" wurden viel länger als früher gezeigt. Von Eboulement de la Vallée de Goldau (1835) hat sich eine kleine Variante, wahrscheinlich die Skizze, erhalten, das in einem Minidiorama abgespielt werden kann. Auch der Text des Sprechers scheint sich erhalten zu haben. Die Nähe dieses tableau zu den ersten Kinofilmen der 1890er Jahre ist verblüffend.
Seit dem Jahr 2020 wissen wir, was den Bankrott des Unternehmens ausgelöst hat. [5] Es ist eine weit verbreitete Vorstellung, dass Katastrophen oder Kriege die Entwicklung oder Durchsetzung neuer Technologien fördern. Aber wie der Fall des Dioramas zeigt, kann eine Katastrophe die Weiterentwicklung einer neuartigen Medientechnologie auch zerstören. Es ist eine reizvolle Vorstellung, dass sich durch das Diorama eine ganz andere, eine ruhigere, poetische Form des Kinos hätte entwickeln können. Andererseits, so kann man interpretieren, hat die Zerstörung der einen Medientechnologie die Entwicklung einer anderen neuen Medientechnologie, der "Lichtmalerei", angestoßen. Letztendlich werden durch Katastrophen nicht bestimmte Entwicklungen in der Technologie beschleunigt, sondern sie bewirken eher die Verzögerung des technologischen Fortschritts, da die gesamtwirtschaftliche Leistung absinkt.
Anmerkungen:
[1] Ein ähnliches Werk von Ihl ist beispielsweise: La barricade renversée. Histoire d'une photographie, Paris 1848, Vulaines-sur-Seine 2016.
[2] Anonym: Daguerre's Diorama, in: Dead Media Archive, URL: http://cultureandcommunication.org/deadmedia/index.php/Daguerre%27s_Diorama); Siehe hierzu auch verschiedene französische Kurzfilme auf YouTube, in denen die Funktionsweise des Dioramas rekonstruiert wird.
[3] R. Derek Wood: Daguerre and his Diorama in the 1830s: some financial announcements, in: Photoresearcher 6 (1994/95/96), 35-40, URL: http://www.midley.co.uk/diorama/Diorama_Wood_2.htm.
[4] Daguerre's Diorama in Paris: Timetable of the 1830s, in: ebenda.
[5] Heinrich Heine: [Die Cholera in Paris], Artikel datiert vom 19. April 1832. Erstabdruck in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, später veröffentlicht in dem Sammelband Französische Zustände, Hamburg 1833. Anmerkung des Verfassers: In den 1830er Jahren glaube man noch, dass die Cholera durch Atempartikel in der Luft übertragen werden könne. Es war nicht bekannt, dass es sich um eine bakterielle Erkrankung handelte. Die französische Regierung verhängte damals eine Ausgangssperre und das Verbot aller öffentlichen Veranstaltungen.
Boris Röhrl