Hartwin Spenkuch: Preußen - eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648-1947, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 532 S., ISBN 978-3-525-35209-0, EUR 70,00
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Spenkuchs Preußenbuch ist eine Publikation sui generis, die im Grenzbereich von Gesamtdarstellung, Handbuch und weit ausgreifendem Literaturbericht angesiedelt ist. Er selbst beschreibt das Konzept wie folgt: "Eine an den Leitfragen orientierte Darstellung wird mit der Erörterung von Forschungsansätzen verbunden. Einer Skizze der wesentlichen Abläufe und unabdingbaren Fakten folgt also jeweils die kritische Diskussion der Ergebnisse neuerer, fachwissenschaftlicher Arbeiten. Dabei geht es stets um ursächliche Faktoren und Strukturentwicklungen, die Hauptargumente bei zentralen jüngeren Kontroversen zwischen Fachhistorikern und um den Wandel sowie auch die Überzeugungskraft von Interpretationslinien. Dies bedingt textliche Verdichtung in der Darstellung und Reduktion von Komplexität ohne Vereinfachung in der Analyse". Spenkuchs explizites Anliegen ist es dabei auch, einen Beitrag zu den Großdiskussionen über den historischen Stellenwert Preußens zu leisten durch einen "Vergleich der Vorzüge und Defizite". Der "subtilen Erlösungsbotschaft für untergründige Schuldkomplexe", als deren Hauptautor er Christopher Clark ausmacht, will Spenkuch "mit kritischer Analyse und expliziten Wertmaßstäben" entgegentreten (13).
Sein mehr als drei Jahrhunderte preußischer Geschichte umfassendes Material hat Spenkuch in sieben Großkapitel geordnet, in denen er jeweils einen problemorientierten Durchgang durch die Chronologie unternimmt, für den er je nach Themenstellung unterschiedliche Ausgangspunkte wählt. Die Schwerpunkte liegen eindeutig im 19. Jahrhundert. Die schwierige Frage, wie das spezifisch Preußische aus der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik herausdestilliert werden kann, beantwortet Spenkuch jeweils unterschiedlich; das Preußische im nationalsozialistischen Deutschland wird dagegen nur punktuell thematisiert. Den Auftakt macht unter dem Titel "Preußen zwischen Ost und West" die Außenpolitik vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende der Weimarer Republik. Sowohl die Chancen als auch die Fallstricke des von Spenkuch gewählten Konzepts werden hier gleich deutlich: So gelingt ihm zwar im ersten Teil des Kapitels eine stringente Skizze der preußischen Außenpolitik bis 1870, in der er die Faktoren des machtpolitischen Aufstiegs deutlich herausarbeitet; im zweiten Teil, der auf das Kaiserreich fokussiert, bleibt es dann aber, da der begrenzte Raum die Ausführung von Argumenten kaum erlaubt, bei plakativen Urteilen - etwa der Charakteristik Kanzler Bernhard von Bülows als "Unheilsgestalt" (40) -, die zwar zutreffen mögen, aber doch apodiktisch anmuten. Dies gilt letztlich auch für die kaum dreiseitige Erörterung der Kriegsschuldfrage des Ersten Weltkriegs, mit der sich Spenkuch wiederum als Gegenspieler Clarks profiliert, indem er die "uferlose deutsche Welt- und Machtpolitik" als zentrale Bedrohung für die anderen Großmächte ausmacht (41).
Thesenreich ist auch das zweite Kapitel, in dem Spenkuch auf "Preußens Wirtschaft" blickt und den gedrängten Überblick über die wichtigsten wirtschaftspolitischen Entwicklungen seit dem 18. Jahrhundert mit einer Bilanz abschließt, die den Modellcharakter der "Verknüpfung von entfesselter Wirtschaft unter Staatsaufsicht und autoritärem politischen System" auch in aktueller Perspektive hervorhebt (85). Im dritten Kapitel, das "Preußens Regionen" gewidmet ist und das territoriale Wachstum durch Kriegsgewinne und Verhandlungserfolge in groben Strichen nachzeichnet, bündelt Spenkuch seine Argumente in der Frage nach den Integrationsgraden und konstatiert eine "stärkere Identifikation mit Preußen bloß in den bis 1763 erworbenen Gebieten". Im restlichen "Neupreußen wandelte sich die Zwangsheirat allmählich zur Vernunftehe, die aber auch in der demokratischen Periode ab 1919 nicht zur Identifikation voranschritt" (108).
Weitaus umfangreicher als das vorige ist das vierte Kapitel, in dem "Preußens Gesellschaft" analysiert wird, die sich im großen Ganzen weniger zur Thesenbildung eignet, ohne dass Spenkuch jedoch auf pointierte Urteile zu Einzelthemen verzichtet: etwa zur Sozialdemokratie, die er in der bisherigen Preußenforschung für sträflich unterbelichtet hält, zur Sozialmilitarisierungsthese Otto Büschs, die er teilrehabilitiert, oder zur Stellung der Juden in Preußen, die er vor der Folie westeuropäischer Entwicklungen sehr kritisch betrachtet. Ähnlich breiten Raum widmet Spenkuch im fünften Kapitel "Preußens politischem System", in dem er in großer Sachkenntnis und Meinungsfreude zahlreiche Streitfragen aufgreift, die die Historikerzunft seit Generationen beschäftigen: Verdienste und Beschränkungen der preußischen Reformer und insbesondere Hardenbergs, dem er gegen die Urteile von Clark und auch von Reinhard Koselleck "generell Modernität, durchdachtes Programm und zielstrebige Umsetzung" attestiert (196); revisionistische Ansätze einer demokratischen politischen Kultur im Kaiserreich, die "die Fachwelt mehrheitlich nicht überzeugen" konnten (221); die Bedeutung des "persönlichen Regiments" Kaiser Wilhelms II., die Spenkuch mit John Röhl - und wiederum gegen Clark - als groß einschätzt (231-233); oder die Rolle der demokratischen Parteien in der Weimarer Republik, deren Verdienste in Preußen er für "im öffentlichen Bewusstsein bis heute unzureichend präsent" hält (240).
Weniger stringent argumentiert Spenkuch in den beiden letzten Kapiteln seines Buches, deren Themen allerdings auch nicht in gleichem Maße zur Thesenbildung anregen. Sie behandeln zum einen "Staatskultur, Kulturstaat und Bürgergesellschaft", worunter Spenkuch die Künste in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, Bildung und Wissenschaft (das "wahre Mirakel Preußens") und auch die Geschichte von Protestantismus und Katholizismus vom 17. Jahrhundert bis 1933 subsumiert, und zum anderen "Preußen und die Welt", worunter ebenfalls eine breite Themenpalette von der Historiographie über die öffentlichen Preußenbilder bis hin zu den internationalen, transnationalen und "(post)kolonialen" Bezügen Preußens gefasst wird. In dem recht knappen Fazit des Buches nimmt Spenkuch schließlich unter dem Titel "Staat als Leitkategorie für die Geschichte Preußens" sein Ausgangsanliegen, "Vorzüge und Defizite" zu vergleichen, nochmals auf und exponiert sich erneut gegen "revisionistische Studien, die Preußen (partiell) rehabilitieren wollen und die Rolle der Zivilgesellschaft in Opposition zum alten Topos der Untertanen-Gesellschaft aufzuwerten suchen" (446). Ob Spenkuch mit seinen inhaltlich überzeugenden Thesen über die Fachkreise hinaus Gehör finden wird, steht dahin: Vermutlich wird der Publikumserfolg, den andere Preußenbücher erzielt haben und der auch Spenkuch zu wünschen wäre, wegen des besonderen Formats, das zugunsten textlicher Verdichtung und thesenhafter Argumentation auf ein chronologisches Narrativ verzichtet, ausbleiben.
Frank Engehausen