Eveline G. Bouwers (Hg.): Glaubenskämpfe. Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Beiheft 130), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 359 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-10158-2, EUR 70,00
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Die Frühe Neuzeit war charakterisiert durch die großen Religionskriege. Diese Form von institutionalisierter religiöser Gewalt fand ihr Ende mit der Französischen Revolution. Danach hätten Gewaltausbrüche ihre religiöse Konnotation weitgehend verloren. An dieser These des französischen Historikers Claude Langlois arbeitet sich der zu besprechende Sammelband ab. Er ist entstanden aus einer Emmy-Noether-Forschungsgruppe am Mainzer Leibniz-Institut für Europäische Geschichte. Die Projektleiterin, Eveline G. Bouwers, sieht das "Beziehungsgeflecht" zwischen Glaube und Gewalt auch im 19. Jahrhundert wirksam. Dabei konnte Gewalt, wie die Fallbeispiele zeigen, sehr unterschiedliche Formen annehmen.
In den Kriegen nach der Französischen Revolution zeigte sich ein tiefsitzender Antiklerikalismus in Verbindung mit bisweilen gewalttätigen Säkularisierungsbestrebungen (Philip Dwyer). In den Auseinandersetzungen um das liberale belgische Schulgesetz wurde um die Oberhoheit im lokalen Raum gekämpft (Eveline Bouwers). Der Aufstand der religioneros in der mexikanischen Provinz Michoacán in den 1870er Jahren zeigte sich auch als Spannung zwischen dem laizistischen Staat und synkretistischen Formen katholischer Frömmigkeit (Brian A. Stauffer). Nationalitätenkonflikte bildeten die Folie für einen Streit um den römisch- oder griechisch-katholischen Gottesdienst im slowenischen Ricmanje (Péter Techet). Nicht nur ein religiöser Gewaltakt, sondern auch eine nationale Demonstration von Macht und ein Kampf um Ressourcen war die Zerstörung der Moschee in der nordafrikanischen spanischen Enklave Melilla (Sara Mehlmer). Antisemitische Gewalt zeigte sich bei "Rabatz" und Exzessen in Galizien 1846 und 1898 (Tim Buchen). Gewalt gegen Kinder in Form von körperlicher Züchtigung im kolonialen Neuguinea diskutiert Katharina Stornig am Beispiel einer Missionsschwester. Ein entgleister Zug im nordirischen Ulster wird von Sean Farrell in den Kontext der Spannungen zwischen protestantischen Oraniern und katholischen "Ribbonmen" gestellt. Die Zerstörung der Station der deutschen Missionsbenediktiner im ostafrikanischen Pugue war ein kolonialer Herrschaftskonflikt, der medial als Religionskrieg uminterpretiert wurde (Richard Hölzl). Das mysteriöse Verschwinden eines französischen Kapuziners aus Damaskus führte zu Reaktionen, in denen alte Vorwürfe jüdischer Ritualmorde an Christen wieder auflebten (Julie Kalman). Wie lange Differenzierungen innerhalb des Katholizismus zwischen Integralisten, Konservativen und Liberalen nachwirken konnten, beleuchtet Mary Vincent am Beispiel der Verehrung des Herzens Jesu in Spanien. Michael Snape schließlich zeigt das ambivalente Verhältnis der Katholiken zu militärischer Gewalt im Ersten Weltkrieg am Beispiel Großbritanniens.
Bouwers ordnet diese Beiträge in zwei Gruppen zusammen. "Praktiken von Gewalt" sieht sie wirksam zum Schutz des religiös-kirchlichen Lebens (napoleonische Kriege und belgische Schulpolitik), in der Ausprägung lokalen Eigensinns (mexikanische religioneros und slowenische Katholiken) sowie als Grenzziehungen religiös-gesellschaftlicher Art (Melilla, Galizien und Neuguinea). Gewaltdiskurse zeigen sich als Legitimierung von Gewalt (Ulster und Ostafrika) oder Vorbereitung von Gewalt (Damaskus, Spanien und Großbritannien). Die Fallbeispiele zeigen, dass religiöse Gewalt im 19. Jahrhundert ein transnationales Phänomen war. Forschungspraktisch umgreifen die Studien den Zeitraum von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, also das lange 19. Jahrhundert. Die Untersuchungen ließen sich vermutlich bis in die Gegenwart fortführen, ohne dass an Exempeln ein Mangel bestünde. Je nach Raum und Zeit würden sich die Protagonisten verändern. Doch das Phänomen der Gewalt ist auch im 21. Jahrhundert mit Religion verbunden. Das zeigt vor allem die von René Girard entwickelte Sündenbock-Theorie, die im Sammelband als Hintergrund mehrerer Studien ausdrücklich genannt wird.
Divergent ist der Gewaltbegriff, wie er in den einzelnen Beiträgen verwendet wird. Er reicht von individueller Gewalt einer einzelnen Ordensschwester über lokale Ausschreitungen bis zu regionalen Exzessen. Gewalt zeigt sich in Aufständen von Gruppen, in widerständigem Verhalten. Gewalt braucht Feindbilder, sucht sich aber auch Kompensation in militanten Formen religiösen Handelns. Obwohl das Buch die Glaubenskämpfe von Katholiken untersucht, sind als Counterpart protestantische, anglikanische, orthodoxe, jüdische und muslimische Personen und Gruppen immer im Spiel. Angesichts der Dominanz nicht-katholischer Regierungen in vielen Teilen Europas im 19. Jahrhundert stellen Untersuchungen von Gewalt aus der Perspektive der Herrschenden ein Desiderat dar. Doch insgesamt ist der von Bouwers initiierte und herausgegebene Sammelband ein gutes Beispiel für die Fruchtbarkeit transnationaler Historiographie sowie für die Verbindung von Lokal-, Regional- und Religionsgeschichte.
Joachim Schmiedl