Gabriele Clemens / Alexander Reinfeldt / Telse Rüter: Europäisierung von Außenpolitik? Die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) in den 1970er Jahren (= Publications of the European Union Liaison Committee of Historians; Bd. 19), Baden-Baden: NOMOS 2019, 411 S., ISBN 978-3-8487-6049-7, EUR 74,00
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Der Begriff Europäisierung hat sich in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff der Interpretation der Europäischen Integration entwickelt, obwohl er nicht eindeutig definiert ist. Einige Autoren verstehen hierunter die Angleichung und Verflechtung von europäischen Gesellschaften [1], andere beziehen ihn auf Prozesse der Nachahmung, des Austausches und der Verflechtung von europäischer Politik [2]. Die Autoren des vorliegenden Bandes greifen auf politik- und sozialwissenschaftliche Ansätze der Europäisierungs-Forschung zurück. Diese betonen die konkrete Sozialisierung von politischen Akteuren in gemeinsamen Institutionen, persönliche Kontakte und die hieraus entstehende Interaktion auf konkreten Feldern. Europäisierung erscheint dann als "Einheit von Sozialisation und Handlungsergebnissen" (374). Ziel ist es, erstmals auf der Basis archivalischer Quellen herauszufinden, ob es im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) seit den frühen 1970er Jahren Europäisierungsprozesse in diesem Sinne gab. Der Ansatz ist zudem multiperspektivisch, untersucht werden die großen Mitglieder der EPZ, Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland, sowie ein kleinerer Staat, Belgien.
Im ersten Kapitel geht es um die institutionelle Dimension der EPZ, die die Strukturen der europäischen Außenpolitik durch neue Institutionen veränderte. An der Spitze standen die Ministertagungen der EPZ, die erstmals im November 1970 in München stattfand. Sie fügten sich zunächst in den gewohnten Rahmen der Außenpolitik ein, ab 1974 aber entschied man sich, im kleinen Kreis (d.h. ohne großen Mitarbeiterstab) zu tagen. Diese nach dem ersten Tagungsort bei Köln als "Gymnich-Format" bezeichneten Treffen waren informell, es gab keine Tagesordnung, keine Protokolle und keine Abschlusserklärungen. Das Politische Komitee der Leiter der Politischen Abteilungen der Außenministerien bildete die zweite Ebene der EPZ und schließlich gab es die Arbeitsgruppen von Experten, die sich mit konkreten Problemen beschäftigten. Schließlich spielten auch so genannte Korrespondenten und die Botschafter der Mitgliedstaaten in den jeweiligen Hauptstädten eine Rolle im EPZ-System. Ergänzt wurde diese institutionelle Struktur durch ein neuartiges Kommunikationssystem, das "Correspondance Européenne" (Coreu), das unabhängig von den klassischen Kommunikationssystemen der Diplomatie funktionierte.
Im Zentrum der Arbeit stehen zwei Fallstudien über die Funktionsweise der EPZ, die sich mit den afrikanischen Konfliktherden und dem Zypern-Problem in den 1970er Jahren beschäftigen. Hier arbeiten die Autoren auf der Basis neu zugänglicher Quellen detailliert heraus, wie die Kommunikation zwischen den beteiligten Staaten in der EPZ verlief. Die Bedeutung der EPZ war für die Staaten unterschiedlich: Frankreich und Großbritannien verfolgten eigene Interessen und waren nicht bereit, diese durch die Debatten im Rahmen der EPZ zu verändern. Insbesondere die französische Regierung betrachtete Afrika als eigenes Interessengebiet. Ähnlich war die Haltung Großbritanniens in Bezug auf Zypern. Auch wenn beide ehemaligen Weltmächte die Koordination der Außenpolitik im Rahmen der EPZ als positiv bewerteten, war diese europäische Dimension den Zielen in Afrika und im östlichen Mittelmeer untergeordnet. Für die Bundesrepublik Deutschland und Belgien war die Situation umgekehrt: Hier war die EPZ ein Ziel an sich und kein Instrument zur Durchsetzung anderer außenpolitischer Interessen. Die enge Kooperation mit dem Ziel, gemeinsame Positionen zu außenpolitischen Problemen zu entwickeln, bot beiden Staaten die Möglichkeit, Einfluss auf weltpolitische Probleme zu nehmen, die sonst außer Reichweite lagen. Damit wurden jedoch die Grenzen der EPZ deutlich: Auch wenn diese von allen untersuchten Regierungen positiv bewertet wurde, war der Erfolg nur dann gegeben, wenn die anderen Staaten die Dominanz Frankreichs und Großbritanniens akzeptierten. Die außenpolitischen Positionen vor allem der großen Staaten der EPZ veränderten sich durch die Kooperation nicht.
Und dennoch führte die EPZ zu deutlichen Veränderungen in der Außenpolitik: Zum einen wandelte sich das Selbstverständnis der Akteure in den Außenministerien. Die Autoren können auf der Basis ihrer Quellen nachweisen, dass die Botschafter und die Politischen Direktoren in den Außenministerien sich zunehmend nicht mehr allein als nationale, sondern als europäische Akteure verstanden. Auch rückten nun Themen in den Fokus der Diplomaten, die ohne die EPZ keine Beachtung gefunden hätten.
Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt hat Grundlagenforschung geleistet. Es überzeugt durch einen methodisch reflektierten Rahmen, der durch multiperspektivische Forschung in den Archiven ergänzt wird. Erstmals erfahren wir daher, wie die Europäische Politische Zusammenarbeit funktionierte und welche Grenzen diesem Ansatz gesetzt waren.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hartmut Kaelble / Martin Kirsch (Hgg.): Selbstverständnis und Gesellschaft der Europäer. Aspekte der sozialen und kulturellen Europäisierung im späten 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. u.a. 2008.
[2] Vgl. Martin Conway / Kiran Klaus Patel (Hgg.): Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches, Basingstoke 2010; Ulrike von Hirschhausen / Kiran Klaus Patel: Europäisierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.11.2010 http://docupedia.de/zg/hirschhausen_patel_europaeisierung_v1_de_2010, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.313.v1
Guido Thiemeyer