Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Anne Kwaschik, Konstanz


Valentin Groebner: Wer redet von der Reinheit? Eine kleine Begriffsgeschichte, Wien: Passagen Verlag 2019, 108 S., ISBN 978-3-7092-0359-0, EUR 12,20.
Das Unbehagen an der Reinheit (und daran, diese historisch auf den Begriff zu bringen) bleibt auch nach der Lektüre des schmalen Bändchen. "Empirie, Empirie ist sowieso per Definition unrein." lautet nicht ohne Ironie der letzte Satz, den der namhafte Luzerner Historiker Valentin Groebner allerdings einer Biologin in den Mund legt. Der Essay fängt einige Gebrauchsweisen und « Avatare » von Reinheit ein - mit klugen Beobachtungen und gewollt unrepräsentativen Trouvaillen (aus insbesondere Mittelalter und Renaissance). Man muss die Ausgangsthese nicht teilen (Reden über Reinheit ist zwangsläufig Reden über vergangene Zustände), man mag den starken Akzent auf der Werbung (seit den bunten Ladenschildern im 16. Jahrhundert) bedauern oder sich angesichts der Bedeutung von Unbeflecktheit und Jungfräulichkeit eine stärkere Gender-Orientierung wünschen, faszinierend und inspirierend sind die gestellten Fragen und die subtil gedeuteten Bilder dennoch und ohne jeden Zweifel für jede/n Kulturhistoriker/in.

Naomi Oreskes: Why Trust Science? Princeton / Oxford: Princeton University Press 2019, 376 S., ISBN 978-0-691-17900-1, USD 24,95.
In Zeiten von Fake-News und Post-Truth hält die engagierte Wissenschaftshistorikerin aus Harvard am Wahrheitsanspruch der Wissenschaft fest: Diesen zu diskreditieren, sei eine politische Strategie, weiß die Expertin, die im Zusammenhang mit Klimawandeldebatten in den USA bereits mehrfach im Kongress aufgetreten ist. Warum sollten wir WissenschaftlerInnen vertrauen, wenn die PolitikerInnen es nicht tun - ist zwar eine Frage, die stark auf den US-amerikanischen Kontext zurückverweist, aber auch in Europa immer virulenter wird. Oreskes skizziert die Wissenschaftsgeschichte vom späten 19. Jahrhundert bis heute und reklamiert als Indikator für die Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft ihren sozialen Charakter. Ein interessanter und aktueller Gedanke: Erst der Prozess der Konsensbildung macht ein Thema wissenschaftlich und begründet trotz aller Schwächen (Stichwort Eugenik) die Vertrauenswürdigkeit in die Wissenschaft. Und ein bedenkenswerter Ratschlag: WissenschaftlerInnen sollten auch über ihre Werte und die der Wissenschaft sprechen.

Michelle Perrot: Le chemin des femmes. Paris: Éditions Robert Laffont 2019, 1184 S., ISBN 978-2-221-24029-8, EUR 32,00.
Es scheint kaum notwendig, an die Bedeutung Michelle Perrots zu erinnern. Im Radio kann man die französische Zeithistorikerin in der ihr eigenen abwägend-umsichtigen Intellektualität Bücher und aktuelle Ereignisse kommentieren hören. Und ihre Arbeiten zur Geschichte des privaten Lebens und der Frauen haben sie spätestens seit der mit Georges Duby herausgegebenen Bände « Histoire des femmes en Occident » zu einer doyenne der Geschichtswissenschaft gemacht. Dennoch ist die hier empfohlene und umfangreiche Anthologie (einer von ihr selbst getroffenen Textauswahl) ein willkommener Anlass, der militanten Historikerin auf ihrer Selbsterkundung durch mehr als fünfzig Jahre Forschung und Engagement zu folgen - und damit der Geschichte unserer Disziplin. Die Texte zeigen die kämpferische Sozialhistorikerin (ihr Doktorvater war im Jahr 1974 Ernest Labrousse) in der Analyse der Arbeiterstreiks ebenso aber die (selbst)-kritische Intellektuelle im Nachdenken über Geschichtsschreibung und Ego-Histoire.

Uwe Wittstock: Karl Marx beim Barbier. Leben und letzte Reise eines deutschen Revolutionärs, München: Karl Blessing Verlag 2018, 288 S., ISBN 978-3-89667-612-2, EUR 20,00.
Algier im Frühling 1882: Der alternde und kranke Revolutionär Karl Marx, von der Trauer um seine Frau Jenny gezeichnet, zieht am Ufer des Mittelmeers Bilanz. In der gleichermaßen souveränen wie leichtfüßigen Führung durch Uwe Wittstock, Kulturkorrespondent und Literaturredakteur von FAZ und Focus, folgen wir ihm in der Retrospektive zu den wichtigsten Kreuzungen seines Lebens. Gekonnt wechselt der Autor zwischen biografischer Erzählung, essayistischen Passagen zum Linkshegelianismus und der detaillierten Beschreibung der algerischen Frühlingsvegetation. Eindrucksvoll und auf der Grundlage von sorgfältigen Recherchen und zwölf bisher unveröffentlichten Briefen der Töchter entsteht das Charakterbild des Menschen und Vaters. Während man die resümierenden Theorie-Passagen so wichtig nicht nehmen muss, stellt sich die im Titel des Buchs angedeutet Leitfrage am Ende der Lektüre mit besonderer Dringlichkeit: Warum veränderte Marx sein Aussehen ein Jahr vor seinem Tod radikal und ließ sich rasieren?

Charles Fourier: Aus der neuen Liebeswelt . Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer, Berlin: Wagenbach 1977, 206 S., ISBN 978-3-8031-2032-8.
Die vergriffene Wagenbach-Edition aus dem Jahr 1977 (mit dem Coverbild in zartrosa) ist ein Monument der Rezeptionsgeschichte: Für die alternativen Milieus war Fourier als radikaler Prediger der freien Liebe zentral. Vielen Zeitgenossen hingegen galt der Visionär als "Idiot". Wie sollten sie auch anders über Theorien wie Fouriers Postulat der Erwärmung der Erdatmosphäre denken? Diese sollte nicht nur zur Schmelzung der Polkappen führen, sondern auch dazu, dass Wein bis zum 60. und Orangen bis zum 70. Breitengrad wachsen würden. Die Notate zur «Neuen Liebeswelt» aus den 1820er Jahren schließlich waren selbst Fouriers Anhängern peinlich. Es lohnt sich, die vielfältige Ideenwelt dieses Zeitdiagnostikers wieder zu entdecken. Nicht nur als Vordenker des Feminismus, sondern auch als Gesellschafts- und Umweltdenker, Architektur- und Stadtplaner kann der erste Theoretiker umfassender Triebbefriedigung und ihrer gesellschaftlichen Funktion das Nachdenken über reale Utopien beflügeln.