Roland Wenzlhuemer: Globalgeschichte. Einführung, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 7/8 [15.07.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
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Von Roland Wenzlhuemer
In den letzten beiden Dekaden hat die Globalgeschichte einen wahren Boom erlebt - in der Forschung ebenso wie in der universitären Lehre. Ihr Interesse an der Untersuchung von globalen Verbindungen und der Durchführung global vergleichender Studien hat eine wichtige Erweiterung des Referenzrahmens der Geschichtswissenschaft in Gang gebracht. Diese Erweiterung der historiografischen Perspektive war überfällig und wurde vor allem (aber nicht nur) von einer jüngeren Generation von Historikerinnen und Historikern gerne aufgenommen. Die Globalgeschichte und ihre vielen verwandten Felder haben Möglichkeiten aufgezeigt, produktiv über die interpretativen Grenzen des Nationalstaats hinauszuschauen. Das neue Forschungsfeld hat sich schnell als innovativ und außergewöhnlich produktiv herausgestellt. Es hat eine ganze Menge kompetenter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angezogen und rasch damit begonnen, sich tief in das analytische Ensemble der Geschichtswissenschaften einzuschreiben.
Die konzeptuellen Grundlagen der Globalgeschichte sind in diesen Boomjahren auffallend dünn geblieben. Wahrscheinlich ist das auch nicht besonders überraschend. Schließlich haben sich die Globalgeschichte und ihre Nachbarfelder lange Zeit vor allem darüber definiert und konstituiert, wovon sie sich abgrenzen und was sie überwinden wollten. Sebastian Conrad spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Globalgeschichte die beiden grundlegenden "Geburtsfehler" der modernen Sozial- und Geisteswissenschaften überwinden wolle. Gemeint sind damit Eurozentrismus und methodologischer Nationalismus - also die willentliche oder unwillentliche Erhebung europäischer Konzepte zu einem Gesamtmaßstab und der Fokus auf den Nationalstaat als zentralen analytischen Referenzrahmen.[1]
Das sind zweifellos lohnende Aufgaben. Und schnell sind weitere hinzugekommen. In seinem Prolegomenon zur ersten Ausgabe des Journal of Global History stellte Patrick O'Brien 2006 fest, dass eine Generation junger Historikerinnen und Historiker sich befreien würde von "disciplinary boundaries, established chronologies and textual traditions for the construction of European, American, Indian, Japanese, Chinese or other national histories".[2] Hinsichtlich der konzeptuellen Grundlagen der Globalgeschichte funktionieren all die Aufgaben und Möglichkeiten ex negativo. Sie verweisen darauf, welche vorhandenen Praktiken und Zugänge zu korrigieren, zu erweitern oder hinter sich zu lassen seien. Die theoretischen und methodologischen Fundamente des eigenen Feldes blieben in diesem Zusammenhang aber sehr breit, sehr vage. Eine solche Unbestimmtheit hat durchaus Vorteile. Sie hat erheblich zur Attraktivität der Globalgeschichte beigetragen, in der sich viele Historikerinnen und Historiker mit ihren eigenen Gegenständen und Ansätzen mühelos wiederfinden konnten. Immer wieder haben in den letzten Jahrzehnten auf diese Weise innovative Forschungsprojekte mit unerwarteten Einsichten entstehen können. Gleichzeitig wird dadurch aber auch die Operationalisierung einer globalhistorischen Perspektive schwierig.
Die Globalgeschichte tritt im Moment in eine Phase der akademischen Konsolidierung ein. Es ist mittlerweile sehr deutlich geworden, dass es sich nicht um eine kurzlebige historiografische Modeerscheinung handelt, sondern dass das Feld eine nachhaltige Wirkung auf die Geschichtswissenschaft hat. In diesem Zusammenhang entwickeln sich nun vermehrt Debatten über die wissenschaftlichen Ziele der Globalgeschichte, über ihre grundlegenden Fragen und die Instrumente, die es zur Verfügung hat. Was ist das eigentliche Erkenntnisinteresse der Globalgeschichte? Welchen Beitrag kann sie zur allgemeineren Geschichtsforschung und zu einem breiten gesellschaftlichen Diskurs leisten? Mehr und mehr Globalhistorikerinnen und Globalhistoriker beginnen sich mit den theoretischen und methodischen Grundlagen ihres Feldes von neuem auseinanderzusetzen und eine tragfähige konzeptuelle Basis für die Zukunft zu entwickeln.
Die sieben in diesem FORUM besprochenen Studien verstehen wir als zentrale Beiträge zu dieser Fahrt aufnehmenden Debatte. Manche wurden tatsächlich aus dem Bestreben, Bausteine für eine (Neu)Konzeptualisierung der Globalgeschichte zu liefern, geschrieben. Andere - ganz spezifisch etwa die Bücher von Samia Khatun und Ewald Frie - verfolgen gänzlich andere Absichten, erlauben aber sozusagen en passant ganz wesentliche Einsichten in die Grundlagen und Herausforderungen der globalhistorischen Forschung. Besonders schön ist es, dass für die Rezensionen Kolleginnen und Kollegen gewonnen werden konnten, die allesamt selbst Globalgeschichte betreiben und sich aktiv in die Debatten im Feld einbringen. Die Wahl der Rezensionssprache wurde den Rezensentinnen und Rezensenten überlassen.
Sebastian Conrad hat im Jahr 2016 mit What is Global History? eine überarbeitete und erweiterte englischsprachige Version seiner drei Jahre zuvor erschienenen deutschsprachigen Einführung in das Feld vorgelegt. Folgt man unserem Rezensenten Cyrus Schayegh (Graduate Institute Genf) so stellt dieses Buch den Standard dar, an dem sich andere Debattenbeiträge messen lassen müssen.
Aus der Eröffnungstagung des Oxford Centre for Global History im Jahr 2012 ist ein programmatischer Sammelband mit dem Titel The Prospect of Global History hervorgegangen. Tamson Pietsch (University of Technology Sydney) befasst sich mit den Aussichten einer Globalgeschichte, die ihre Wurzeln in der Kolonial- und Imperialgeschichte hat.
Aus dem Umfeld der von Jürgen Osterhammel geleiteten Forschungsstelle "Globale Prozesse" an der Universität Konstanz wiederum ist im Jahr 2014 der Band Globalgeschichten. Bestandsaufnahme und Perspektiven hervorgegangen, der sich unter anderem - wie Harald Fischer-Tiné (ETH Zürich) in seiner Besprechung betont - konstruktiv mit der Kritik an globalhistorischen Zugängen auseinandersetzt.
Im Jahr 2018 haben Dominic Sachsenmaier und Sven Beckert den Sammelband Global History, Globally veröffentlicht, der aus einer Reihe von Konferenzen, die zwischen 2008 und 2011 in den USA und Deutschland abgehalten worden sind, hervorgegangen ist. Rezensent Michael Goebel (Graduate Institute Genf) sieht die zentrale Stärke dieses Bandes in der Diskussion der Bedeutung von Standortgebundenheit in der Globalgeschichte.
Der Karlsruher Historiker Rolf-Ulrich Kunze geht in seinem im Jahr 2017 erschienenen Buch Global History und Weltgeschichte. Quellen, Zusammenhänge, Perspektiven ebenfalls den theoretischen Grundlagen der Globalgeschichte nach. Rezensent Benedikt Stuchtey (Universität Marburg) sieht den Sinn der Globalgeschichte hier hauptsächlich aus der Genealogie von Global- und Weltgeschichte abgeleitet und weist auch auf einige schmerzliche Leerstellen in Kunzes Werk hin.
Es darf vermutet werden, dass das im Jahr 2018 publizierte Werk Australianama: The South Asian Odyssey in Australia von seiner Autorin Samia Khatun nicht an erster Stelle als Beitrag zur Debatte um die Globalgeschichte gedacht war. Martin Dusinberre (Universität Zürich) arbeitet in seiner Rezension aber deutlich heraus, welche grundlegenden Einsichten sich für Globalhistorikerinnen und -historiker aus diesem ungewöhnlichen Buch ergeben.
Auch Ewald Frie hat mit seiner 2017 erschienenen, neu erzählten Geschichte der Welt wohl anderes im Sinn als einer jungen und junggebliebenen Leserschaft die theoretischen und methodischen Grundlagen der Globalgeschichte näher zu bringen. Rezensentin Julia Angster (Universität Mannheim) erkennt in der Anlage und Erzählweise dieses Buches aber ein exzellentes Beispiel dafür, wie man gewohnte weltgeschichtliche Perspektiven auf den Kopf stellen und gerade dadurch Verflechtungsgeschichten ohne Mittelpunkt erzählen kann.
Anmerkungen:
[1] Sebastian Conrad: What is Global History? Princeton / Oxford 2016, 3.
[2] Patrick O'Brien: Historiographical Traditions and Modern Imperatives for the Restoration of Global History, in: Journal of Global History 1 (2006)/1, 4.