Peter Fleischmann / Georg Seiderer (Hgg.): Archive und Archivare in Franken im Nationalsozialismus (= Franconia. Beihefte zum Jahrbuch für fränkische Landeskunde; Beiheft 10), Neustadt an der Aisch: Zentralinstitut für Regionenforschung 2019, 567 S., 50 Farbabb., ISBN 978-3-940049-25-4, EUR 28,00
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Spät haben die Archive mit der Untersuchung ihrer Rolle im Nationalsozialismus begonnen. Erst der Deutsche Archivtag in Stuttgart 2005 brachte eine Wende. [1] 2013 war das preußische Archivwesen zwischen 1933 und 1945 Gegenstand einer Tagung in Berlin, 2016 in München die staatlichen Archive Bayerns. [2] Hieran knüpfte 2017 eine Nürnberger Tagung zu Archiven und Archivaren (Archivarinnen fehlten noch) im Nationalsozialismus. Die Dopplung im Titel des hier anzuzeigenden Buches war Programm. Wie schon bei den vorangegangenen Tagungen standen sowohl Institutionen als auch Personen im Vordergrund. Zwei Beiträge gelten den Leitern des Staatsarchivs Nürnberg und ihren Mitarbeitern im höheren Dienst (Peter Fleischmann). Fridolin Solleder erhält wegen seines Einsatzes bei der Sicherung der Bestände in Außendepots eine besondere Würdigung (Georg Seiderer). Dem Staatsarchiv Bamberg und dem von ihm 1938 gelösten Staatsarchiv Coburg sind eigene kleinere Beiträge gewidmet (Stefan Nöth, Alexander Welz). Herbert Schott weist nach, dass zwischen 1932/33 und 1938/39 die Zahl der Benutzungen wegen des 'Arier'-nachweises um mehr als Doppelte stieg. Um beschlagnahmtes jüdisches Schriftguts konkurrierten das Reichssippenamt, staatliche Archive und gelegentlich Heimatmuseen (Daniel Burger). Ein schwieriges, für die heutige Forschung noch relevantes Thema behandelt Nicola Humphreys: gezielte Aktenvernichtung bei Kriegsende und danach in Mittelfranken. Sie schätzt die Verluste auf rund 50% der Bestände und ermittelte mehrere Ursachen: die Folgen der Luftangriffe, Verwendung von Akten als Heizmaterial, planmäßige Aktenvernichtung. Sie hält zwar eine tröstliche Botschaft bereit: "Aufgrund der starken Verquickung der einzelnen Stellen und Ebenen der Regimes lässt sich aber durch Parallelüberlieferung auf horizontaler oder vertikaler Ebene manches wieder rekonstruieren" (129). Doch erforderte der Rückgriff auf Ersatz- oder Ergänzungsüberlieferungen Arbeitsaufwände, die Archive selten investierten können. Zwei den Staatsarchiven zugeordnete Beiträge berühren Schnittmengen zum übrigen Archivwesen. Das Münchener Archivpflegereferat hatte seit 1929 der aus Unterfranken stammende Ludwig Friedrich Barthel übernommen, der eine Doppelexistenz als Literat und Archivar führte; Klaus Rupprecht porträtiert diese schillernde Persönlichkeit. Nicht minder facettenreich ist die Vita des Archivverwaltungsbeamten Georg Kolbmann, der ehrenamtlich die Gesellschaft für Familienforschung in Franken leitete (Werner Wilhelm Schnabel).
Die Beiträge zu den Kommunalarchiven zeigen insgesamt eine große Bandbreite von Entwicklungen, jedoch scheint insgesamt die Nähe zur NSDAP größer gewesen zu sein als in den staatlichen Archiven. So wirkte in Erlangen der bekennende Antisemit Ernst Deuerlein (Andreas Jakob) oder in Fürth Adolf Schwammberger, der ab 1939 Kulturamtsleiter in der besetzten Stadt Thorn war (Kamran Salimi/Martin Schramm). In Lauf und Schnaittach waren Archiv und Heimatmuseum vermengt (I. Schönwald). Das Ansbacher Archiv nahm eine sippengeschichtliche Sammlung der Ortsbauernschaft auf (Wolfgang G. Reddig). In Bamberg forcierte der Archivar die Bildungsarbeit über das Kriegsende hinaus. In Hof beteiligte sich das Archivar noch nach Kriegsende an Aktenvernichtungen, stilisierte sich aber zum Widerständler (Arnd Kluge). In Schweinfurt wirkte die NSPDAP auf die Personalpolitik des Archivs ein (Uwe Müller), während in Würzburg das Archiv massiv in die lokale Kulturpolitik der Nationalsozialisten eingebunden war (Axel Metz). Im Stadtarchiv Nürnberg verfasste der Leiter Reinhold Schaffer 1936 eine "unsägliche Schrift" (417) über die Nürnberger Juden auf der Grundlage seines antisemitischen Bibliothekars (Dominik Radlmaier). Drei knappe Beiträge zum Diözesanarchiv in Bamberg, zum Ordinariatsarchiv Eichstätt und zum Archiv der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern in Nürnberg befassen sich jeweils mit dem 'Arier'-nachweis aus Kirchenbüchern. Das in die Überschrift genommene Fazit von Andreas Hölscher zu Bamberg ("Sand im Getriebe bei der Erstellung der 'Ariernachweise'", 529) ist allerdings durch den Beitrag kaum abgedeckt.
Ob Franken exemplarisch für das Verhalten der Archive und Archivare im Nationalsozialismus war oder nicht, müssen weitere regionale Studien zeigen. In ähnlicher Dichte wie zu Franken liegen zur Zeit keine vor. Dafür ist den Herausgebern, den Autorinnen und Autoren zu danken. Die hier vorgelegten Befunde verdienen in jedem Fall weiter und für andere Regionen diskutiert zu werden. Zu fragen ist u.a.: Gab es tatsächlich in den Staatsarchiven und den Kirchenarchiven mehr Spielräume als in den Kommunalarchiven, die eng mit lokalen Dienststellen der NSDAP kooperierten? Wann wurden Bestände vernichtet? Wo blieb jüdisches Schriftgut? Kam es nicht auch zu bis heute wirkenden Modernisierungsprozesse im Archivwesen, wie in Stuttgart 2005 festgestellt wurde? In jedem Fall muss die Nachkriegszeit einbezogen werden, denn in welchem Maße Archivare belastet waren, blieb lange unbekannt. So wurde erst 2017 die nach dem hoch geehrten Schwammberger benannte Straße in Fürth umbenannt. Zu bedenken ist weiterhin, dass die hier behandelten Archivare (wie wohl die meisten anderen) nicht ohne politische Vorprägung in die nationalsozialistische Zeit eintraten. Sie waren in der Weimarer Republik auf dem rechten Spektrum der Parteienlandschaft angesiedelt und fanden sich deshalb auch nach 1933 zurecht. Eine Anpassung an veränderte Verhältnisse war für diese etatistisch denkenden Menschen nicht schwierig. Der posthum auf der Tagung in München 2016 geehrte und in Dachau ermordete Staatsarchivrat Fritz Gerlich war sicher eine Ausnahme, aber nicht die Regel.
Anmerkungen:
[1] Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart. (Redaktion Robert Kretzschmar u.a.), Essen 2007.
[2] Sven Kriese (Hg.): Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933, Berlin 2015; Bernhard Grau: Dreitägiges Kolloquium beschäftigt sich mit der Geschichte der Staatlichen Archive in der NS-Zeit, in: Nachrichten aus den staatlichen Archiven Bayern Nr. 72/2017, 16-19.
Wilfried Reininghaus