Ruth Leiserowitz: Heldenhafte Zeiten. Die polnischen Erinnerungen an die Revolutions- und Napoleonischen Kriege 1815 - 1945 (= Die Revolutions- und Napoleonischen Kriege in der europäischen Erinnerung), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 237 S., 19 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78605-0, EUR 39,90
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Das polnische Engagement in den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen beeinflusste das polnische historische Bewusstsein in besonderem Maße, nicht zuletzt, weil die Nationalhymne in den Revolutionskriegen als "Marsch der polnischen Legionäre" unter ihrem Anführer Henryk Dąbrowski entstanden ist. Die in diesen Kriegen kämpfenden polnischen Legionäre sollten dazu beitragen, die Teilungsmächte niederzuringen, so dass der polnische Staat wiedererstehen könne. Entsprechend wurden Napoleons Herrschaft und der entstandene Vasallenstaat, das Herzogtum Warschau, für die polnische Nation positiv interpretiert.
Bestehen hinsichtlich dieser Ereignisse mit Blick auf die polnische Geschichte noch zahlreiche Forschungsdesiderate, so gilt diese Feststellung auch für die aus den Ereignissen entstandenen politischen Mythen sowie für die Implementierung dieser Zeit und Ereignisse in das polnische Geschichtsbewusstsein. Ihre Wirkung auf die polnische Identität und Erinnerungskultur bis in die Gegenwart bedarf daher noch einer historiografischen Aufarbeitung.
Gerade die Erinnerung an die Helden und Ereignisse während der Revolutions- und Napoleonischen Kriege habe zur Entwicklung von spezifischen Meistererzählungen geführt, so die Grundthese des vorliegenden, recht knappen Bandes mit rund 165 Textseiten. Eine wichtige Rolle spielte und spielt in diesen Prozessen die Literatur, wie Ruth Leiserowitz darlegt. Hierbei geht sie von der Prämisse aus, dass der polnischsprachige Buchmarkt sich im 19. Jahrhundert rasant entwickelt und gerade die historische Literatur eine Blüte nicht nur im geteilten Polen erlebt habe. Jedoch analysiert Ruth Leiserowitz nicht nur die Meistererzählungen und ihre Ausformungen in der Literatur, sondern fokussiert in ihrer Analyse auch die Akteure und ihre dahinterstehenden Interessen sowie das jeweilige Zielpublikum.
Die Darstellung untergliedert Ruth Leiserowitz in insgesamt neun, meist nicht mehr als 15 bis 20 Seiten umfassende Kapitel. Nachdem sie eingangs in den historischen Kontext und in die Bedeutung der Erinnerung für die polnische Identitätsbildung im 19. und 20. Jahrhundert eingeführt hat, stellt sie den polnischen Buchmarkt und seine wichtigsten Akteure (Verleger, Distributoren, Leibibliotheken und die Leserschaft) vor. Anschließend beschreibt sie die "Strukturen der Erinnerung" und bezieht sich auf Formen der literarischen Erinnerung. Hierbei berücksichtigt Leiserowitz auch eine quantitative Analyse der publizierten Werke. Somit kann sie Phasen mit einer besonderen Konjunktur an einschlägigen Themen herausarbeiten. Weiterhin schildert sie insbesondere die Lebenswege der Autoren, die jeweils adressierte Generation und die Erscheinungsorte, Verlage und den historischen Jugendroman als besonderes Genre. Hierbei kommt sie zum Schluss, dass die Erinnerung an das Herzogtum Warschau sich im Wesentlichen in zwei Hauptperioden aufgeteilt habe, vor allem in die Phase zwischen 1815 und Januaraufstand 1863 und den Zeitraum zwischen 1905 und 1914.
Anschließend stellt die Verfasserin eins der wichtigsten Werke der polnischen Literatur des 19. Jahrhunderts, den "Pan Tadeusz" (Herr Tadeusz) von Adam Mickiewicz, und zentrale, in der Literatur bearbeitete Themen kaleidoskopartig vor. Hierbei nimmt sie jeweils eine literarische Quelle als Ausgangspunkt ihrer Darstellung der behandelten Themenfelder: die Legionäre, "durch den alten polnischen Osten", die Geliebte Napoleons Maria Walewska und den Aufstandshelden von 1794 Tadeusz Kościuszko. Innerhalb der Kapitel gibt es wiederkehrende Schwerpunkte: den historischen Kontext und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen literarischen Werkes, die Repräsentationen bzw. Rhetorik der Erinnerung und schließlich die Wirkungsgeschichte. Dieses Gliederungsschema der einzelnen Kapitel wird nur in dem Tadeusz Kościuszko behandelnden Kapitel insofern in signifikanter Weise durchbrochen, als dass Ruth Leiserowitz hier explizit die Zwischenkriegszeit, also die Zweite Republik, und die Erinnerung an Kościuszko im Zweiten Weltkrieg adressiert. Sie betont, dass innerhalb der literarischen Werke die polnischen, meist mythisch verklärten Helden und Erinnerungsorte jener Epoche, nicht aber Napoleon selbst im Mittelpunkt der polnischen Erinnerung gestellt worden seien. Bedeutsam für ihre Analyse ist die Feststellung, dass die polnische Literatur über jene Epoche im Gegensatz zu der englischen oder französischen nur durch Übersetzungen in Europa zirkulieren und daher nur eine geringe, ausgewählte Zahl an Werken europaweit rezipiert werden konnte.
Im Fazit, in dem die Autorin das Verhältnis von Polen und Europa durch die Linse der Erinnerungen an die Revolutions- und Napoleonischen Kriege diskutiert, kommt sie zum Schluss, dass der Erfahrungszeitraum dieser Epoche für die Polen nicht so einfach habe enden können, wie für andere europäische Nationen (150). Mit dieser Feststellung stellt sie eine Nachwirkung für diese in Frage, obwohl diese durchaus im 19. Jahrhundert spürbar gewesen waren, z.B. in der Erinnerungskultur, etwa in Form des Leipziger Völkerschlachtdenkmals, oder der bewussten Beibehaltung etwa des Code Civil in einigen deutschsprachigen Regionen. Die Autorin bezieht sich hierbei auf die langwierigen Debatten um das Warschauer Denkmal für Józef Poniatowski, die aber durchaus mit dem Hinzutreten weiterer erinnerungskulturell relevanter Ereignisse erklärt werden können.
Der letzte Abschnitt des Fazits verweist auf die grundlegenden Intentionen der Verfasserin: In Bezug auf die "europäischen Momente" will sie zeigen, dass Polen "trotz seiner spezifischen Teilungsgeschichte aktiv an europäischen Prozessen teilnahm, auch wenn diese manchmal verzögert erfolgten." (164) Somit beendet sie den Band mit dem Plädoyer, zukünftig regionale, nationale und europäische (Kriegs-) Erfahrungen und (Kriegs-)Erinnerungen stärker in ihrem globalen Kontext zu analysieren - eine Forderung, die sie selbst nur bedingt einlöst. Hierdurch schafft sie den argumentativ an dieser Stelle fragwürdigen, weil nicht weiter vertiefend diskutierten Konnex zu dem aktuellen geschichtspolitischen Umgang mit dem Danziger Weltkriegsmuseum, indem sie betont, dass dessen ursprüngliche Konzeption von einer europäischen und globalgeschichtlichen auf eine nationalgeschichtliche Interpretation verengt worden sei.
Insgesamt überwiegen in den einzelnen, teilweise sehr kleinteilig verfassten Kapiteln die Beschreibungen und Zusammenfassungen der literarischen Produktion, ohne diese umfangreicher und analytisch-reflektierend in ihrer Tiefe zu erfassen. Abschließend kann dieser Band daher als ein Beitrag zur Untersuchung der polnischen Geschichts- und Erinnerungskultur gewertet werden, der einen wichtigen Impuls zur Aufarbeitung einer geschichtspolitisch nicht vollkommen unumstrittenen Epoche darstellt.
Heidi Hein-Kircher