Katrin Hammerstein: Gemeinsame Vergangenheit - getrennte Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich (= Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert; Bd. 11), Göttingen: Wallstein 2017, 592 S., ISBN 978-3-8353-3087-0, EUR 49,90
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Jenny Wüstenberg: Civil Society and Memory in Postwar Germany, Cambridge: Cambridge University Press 2017, XX + 334 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-1-107-17746-8, GBP 75,00
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Hubertus Büschel: Hitlers adliger Diplomat. Der Herzog von Coburg und das Dritte Reich, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2016
Hannes Liebrandt / Michele Barricelli (Hgg.): Aufarbeitung und Demokratie. Perspektiven und Felder der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in Deutschland, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019
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Johannes Hürter / Thomas Raithel / Reiner Oelwein (Hgg.): »Im Übrigen hat die Vorsehung das letzte Wort «. Tagebücher und Briefe von Marta und Egon Oelwein 1938-1945, Göttingen: Wallstein 2021
Stefan Karner / Alexander O. Tschubarjan (Hgg.): Die Moskauer Deklaration 1943. "Österreich wieder herstellen", Wien: Böhlau 2015
Die hier vorzustellenden Untersuchungen reihen sich in die anhaltende Konjunktur von Arbeiten auf dem Feld der Memory Studies nahtlos ein. Katrin Hammersteins Dissertation und Jenny Wüstenbergs Studie ergänzen sich: Während die Historikerin Hammerstein (Universität Heidelberg) einen primär auf staatliche Akteure fokussierten Drei-Länder-Vergleich zu Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland vorlegt, konzentriert sich die Politikwissenschaftlerin Wüstenberg (University of Toronto) auf den Beitrag zivilgesellschaftlicher Akteure zur Entwicklung der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik. Methodisch freilich gehen die beiden durchaus verschiedene Wege.
Katrin Hammerstein rückt in ihrem komparativen staatsorientierten Ansatz "Gedächtnisdiskurse und Identitätskonstruktionen" der drei NS-Nachfolgestaaten in den Mittelpunkt. Monografisch betritt sie damit Neuland. Hammerstein rückt "Verbindungslinien zwischen den drei Staaten in ihrem Umgang mit der NS-Vergangenheit" ins Zentrum ihrer Studie, wobei sie primär "die offiziellen Geschichtsbilder vom Nationalsozialismus und diesbezüglichen Gedächtnisdiskurse" (22) untersucht. Als Fokus ihrer Untersuchung nennt sie die "Verflechtung in der Abgrenzung" (26) zwischen den drei Staaten. Mit der gewählten "Dreierperspektive" (13) oder dem "Dreiecksverhältnis" (16) begibt sich die Historikerin auf ein komplexes vergleichendes Untersuchungsfeld. Im Fluss der jüngeren Forschung folgt sie einer transnationalen Perspektive. Dabei setzt sie in Abgrenzung zur bisherigen Forschung einen Schwerpunkt bei Gemeinsamkeiten und Parallelen der Entwicklung in den drei Staaten und Gesellschaften. Dabei umfasst die 590-seitige Studie zwar die gesamte Zeit von 1945 bis zur jüngeren Gegenwart, legt allerdings ihren Fokus auf ein Jahrzehnt, die Dekade von Ende der 1970er bis Ende der 1980er Jahre. Dies ist pragmatisch sinnvoll, sollte jedoch bei den Schlussfolgerungen, die die Autorin zieht, bedacht werden.
Auch dass sie die historischen Verknüpfungen und Vernetzungen der drei Staaten jenseits des NS-Bezugs vollständig ausklammert, ist aus forschungspraktischen Gründen nachvollziehbar, in der Sache freilich eine problematische Verengung, denn konstitutive Dimensionen und Begründungen - beispielsweise im Falle der Bundesrepublik der Weimar-Bezug - kommen so gar nicht in den Blick. Auch der Umgang mit der "zweiten deutschen Vergangenheit" im vereinigten Deutschland spielt keine Rolle in der Studie, obwohl beispielsweise von den beiden Bundestags-Enquetekommissionen zur SED-Diktatur wichtige Impulse für die auf den Nationalsozialismus bezogene Erinnerungskultur ausgingen.
Methodisch hinkt die Studie Hammersteins in einer Hinsicht: Denn im vorletzten Kapitel untersucht sie die Zeit nach dem Ende der DDR - eines der drei Untersuchungsobjekte hat sich hier staatsrechtlich gleichsam in Luft aufgelöst, sodass die systematische Argumentation strenggenommen an ihr Ende kommt und die "Synchronisierung der Gedächtnislandschaften" im vereinigten Deutschland und Österreich im Mittelpunkt steht. Die Autorin konstatiert dieses Problem zwar als "formale Zäsur" (399) ihrer Arbeit, integriert gleichwohl dieses erneut umfangreiche Kapitel als formal vollgültigen Untersuchungsteil in ihre Darstellung.
Die Einleitung des Bandes ist sehr ausführlich geraten: Die Schilderung des Forschungsstandes erstreckt sich über fast zehn Seiten, für die Entwicklung ihrer Fragestellung benötigt die Autorin weitere elf Seiten, für Methoden- und Begriffsklärungen nochmals 13 Seiten. Problematischer noch: Sie formuliert Dutzende Unterfragen, die sie an ihr Material anlegen will - der Verdacht einer uneinlösbaren Catch-all-Perspektive stellt sich ein: Wie kann man hundert Fragen und mehr wirklich methodisch sinnvoll beantworten?
Aufgrund des breiten Untersuchungsansatzes war es eine forschungspraktisch sinnvolle Entscheidung, die Arbeit nicht primär mit eigenen Archivstudien zu unterfüttern. Zudem kann sich Hammerstein auf eine Vielzahl von Forschung stützen - einzig Österreich und die DDR sind bislang kaum vergleichend untersucht worden. Die Autorin versucht dabei insbesondere herauszuarbeiten, inwiefern M. Rainer Lepsius' einschlägige Typologie der drei spezifischen Verarbeitungsmuster (Bundesrepublik: Internalisierung, DDR: Universalisierung, Österreich: Externalisierung) tragfähig ist.
Eine Parallele der drei Verarbeitungsformen sieht sie - damit Lepsius präzisierend - in dem, was sie paradox "schuldige Opfer" (45 ff.) nennt, denn die Bundesrepublik, die DDR und Österreich stilisierten "sich selbst zu Opfern des Nationalsozialismus" (134). Den Lepsius-Ansatz aufnehmend, verweist sie auf den engen Zusammenhang der jeweiligen Gründungsmythen mit der staatsrechtlichen Kontinuitätsfrage und der (Nicht-)Übernahme historisch-politischer Verantwortung für die Verbrechen und Folgen des Nationalsozialismus.
Hammerstein zeigt, wie sich die staatlichen Ebenen der Erinnerungskulturen in den drei Gesellschaften über die Jahrzehnte annäherten und so das Thema der historisch-politischen Verantwortung für die NS-Verbrechen zunehmend in den Mittelpunkt von (weitestgehend opferzentrierten) Debatten und leitenden Narrativen rückte. Das große Gedenkjahr 1988 bezeichnet sie deshalb als "Jahr der 'connected memories'" (398). Österreich habe oft eine zeitlich nachhinkende Rolle eingenommen, wobei die Entwicklung der Bundesrepublik als Maßstab genommen wird; nur vereinzelt wie bei der Einsetzung von Historikerkommissionen begannen in der Alpenrepublik Entwicklungen auch früher.
Sie kommt zu dem Schluss, das paradigmatische komparative Deutungsmodell von Lepsius sei "zu statisch, idealtypisch und letztlich nicht ausreichend" (133), um die tatsächlichen historischen Entwicklungen adäquat zu erfassen. Es stelle zwar "grundsätzlich ein brauchbares theoretisches Modell" (493) dar, sei jedoch aus empirischer Perspektive zu schematisch und ahistorisch. Diese Kritik verfehlt freilich die primär heuristische Funktionalität eines idealtypischen Ansatzes, wie ihn Lepsius (nicht nur in dem von ihr zitierten Aufsatz) in weberianischer Tradition anwandte - auf dieser Ebene stellen Idealtypen "nichtfalsifizierbare, idealisierte theoretische Modelle" (Gert Albert) dar, die der Bildung von (dann auch falsifizierbaren) Hypothesen die Richtung weisen können.
Auf einer ersten Ebene belegt die insgesamt beachtliche Studie viele Annahmen, die man bei Kenntnis der Entwicklung in den drei Ländern über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe hegen konnte: spezifische Ausgangsbedingungen, systembedingte Aus- und Einblendungen, wechselseitige Konkurrenzen und Instrumentalisierungen ebenso wie die anfängliche Dominanz pragmatischen Handelns bei der Integration von Belasteten. Darüber hinaus gelingt der Autorin eine ansprechende Zusammenschau der Entwicklung in den drei Gesellschaften von der "getrennten Erinnerung" nach 1945 bis zur "Gedächtnismélange" (488) seit den 1980er Jahren.
Mitunter bildet sie die Resultate ihrer Untersuchung freilich in einer schon fast an sportliche Wettkämpfe erinnernden Sprache ab ("Letztlich überholte die [demokratische] DDR Österreich quasi auf den letzten Metern noch", 489), sodass man dem ein nicht nur glättendes, sondern auch kürzendes Lektorat gewünscht hätte. Auch ein Personen- und Sachindex fehlt leider.
Gleichsam das perspektivische Gegenstück zur Arbeit von Katrin Hammerstein ist die Studie von Jenny Wüstenberg. Sie entfaltet darin ein Panorama zivilgesellschaftlicher Akteure in Deutschland, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte einsetzten. Im Mittelpunkt steht dabei der Umgang mit der NS-Zeit und - der zeitliche Rahmen der Untersuchung reicht ebenfalls bis in die jüngste Vergangenheit - der DDR- und SED-Geschichte. Im Vorwort verweist sie auf ihre familiengeschichtlichen Motivationen für ihr Interesse am Erinnerungsthema und letztlich für diese Studie. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung stehen Erinnerungsaktivisten, von denen sie 102 Personen zwischen 2005 und 2016 im Rahmen von Forschungsreisen nach Deutschland interviewt hat: insbesondere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Gedenkstättenaktivisten, Politikerinnen und Politiker, Ministerialbeamte, Journalistinnen und Journalisten, Vereins- und Institutionenpersonal sowie Künstlerinnen und Künstler. Hierzu schreibt sie: "The question that I try to answer is not necessarily 'Who is right'? When there are contradictory accounts, but what sorts of politics result from these different understandings and how they impact what memory means to democratic practice" (xii).
Die Darstellung beginnt mit einer emblematischen Protestaktion (die auch auf dem Cover des Bandes abgebildet ist): dem symbolischen Grabungsbeginn von Mitgliedern des "Aktiven Museums Berlin" am 5. Mai 1985 auf dem Gelände des vormaligen Reichssicherheitshauptamtes, der Terrorzentrale des NS-Staates. Wüstenberg deutet diesen hier öffentlichkeitswirksam aufscheinenden "civil society-led activism" (2) als einflussreichen Faktor der erinnerungskulturellen Transformation. Als charakteristisch für diesen prägenden Einfluss zivilgesellschaftlicher Akteure sieht sie die Genese und Etablierung der dann hier später langsam und kontrovers entstandenen Berliner "Topographie des Terrors". Es gelang den Akteuren, aus einer gesellschaftskritischen Idee seit den frühen 1980er Jahren letztlich einen der herausragenden Orte nicht nur der Hauptstadt des vereinten Deutschland, sondern der gesamten Berliner Republik zu formen.
Die Autorin zeichnet die verschiedenen Etappen nicht-staatlichen Engagements seit 1945 nach: die anfangs bedeutende Rolle von Überlebenden des NS-Terrors und wenig später von deren Interessenorganisationen bei der Initiierung von Denk- und Mahnmalen; die wichtige normative Brücke der gesellschaftlichen Umbrüche seit den 1960er Jahren (die freilich erst mit Verzögerung sich auch im Feld der materiellen Erinnerungskultur niederschlug) und die seit den 1980er Jahren beobachtbare Herausbildung dessen, was die Akteure selbst "Gedenkstättenbewegung" nennen; und schließlich nach 1989/90 die Genese einer weiteren Erinnerungsbewegung, die sich der Aufarbeitung und Lokalisierung des Erinnerns an die SED-Diktatur verschrieben hatte. Gerade der letztgenannte Punkt differenzierte und verkomplizierte den deutschen Gedächtnisdiskurs noch weiter, wie Wüstenberg mit Hinweis auf die einschlägigen Konflikte um den Vergleich beider Diktaturgeschichten konstatiert.
Sie widmet sich besonders der westdeutschen "Gedenkstättenbewegung" und der sich oft in der Form von "Geschichtswerkstätten" niederschlagenden "Geschichtsbewegung" - beides Entwicklungen der 1980er Jahre. Sie bindet zwei konkrete Fallstudien in ihre Darstellung ein: zum einen die Entstehung der "Topographie des Terrors" und die Rolle des "Aktiven Museums Berlin" als maßgeblicher zivilgesellschaftlicher Akteur, zum anderen die Debatte um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße in Potsdam. Sie rekonstruiert grundlegende Prinzipien der Erinnerungsbewegungen der 1980er Jahre: die dezentrale Lokalisierung, die Konzentration auf "Authentizität" der ästhetischen Gestaltung und die antimonumental-selbstreflexive Grundhaltung.
Wüstenberg betont dabei die spezifische Verflechtung staatlicher und bürgerschaftlicher Akteure nach 1945 und nach 1990 - erst durch dieses charakteristische Nähe- und Distanzverhältnis wurde die landesweite dezentrale und föderal aufgefächerte Erinnerungslandschaft möglich. Die Basisaktivisten sieht sie in einer entscheidenden Rolle bei der von ihr konstatierten Doppelentwicklung eines normativen Wandels und eines institutionellen Umbruchs im Kontext der NS-Aufarbeitung. Sie spricht explizit von den "victories of the Memorial Site and the History Movement" (265). Folge dieser Entwicklung sei die Entstehung hybrider Institutionen gewesen, da vormalige Aktivisten der NS- und SED-Aufarbeitung nun oftmals in leitender Funktion in Gedenkstätten oder Stiftungen tätig wurden. In diesem Prozess veränderten sich die Akteure beider Seiten - und dadurch transformierten sie auch die deutsche Demokratie. Zu den nichtintendierten Konsequenzen dieses Erfolgs zählt sie den Verlust von Einfluss und kritischem Potenzial auf Seiten der zivilgesellschaftlichen Erinnerungsaktivisten - ein zentraler Aspekt jüngerer Selbstverständigungsdiskurse der Gedenkstätten-Akteure.
Sie zeigt, "how the normative regime of memory - those practices and narratives about the past are considered acceptable by the public and by state institutions - changes over time through civic action" (5 f.). Sie betont dabei aber auch, dass es sich um einen Balanceakt handele zwischen repräsentativen und normativen Teilen demokratischer Erinnerung sowie zwischen Erinnerungsarbeit und Erinnerungsprotest. Und: Bürgerliches Erinnerungsengagement sei nicht per se gut, sondern von seinen institutionellen und intentionalen Kontexten abhängig.
Wüstenbergs Studie zur deutschen "politics of memorialization" (11) bringt eine ganze Reihe wichtiger neuer Perspektiven in die Debatte um Geschichte und Gegenwart der deutschen Erinnerungskultur ein. Hier wäre als erstes die Historisierung des Themenfeldes durch die Längsschnittmethode zu nennen, wodurch eine merkliche und erfreuliche Distanz zu dessen politisch-moralischen Aufladung eintritt; zweitens die Fokussierung auf das dialektisch verbundene Viereck von öffentlicher Erinnerung, zivilgesellschaftlichen Akteuren, staatlichen Institutionen und erinnerungskulturellen und politischen Normen; hierzu zählt auch die sonst nur selten praktizierte Analyse der Erinnerungsinitiativen als soziale Bewegungen; drittens die demokratietheoretisch motivierte Frage nach dem Beitrag der Akteure zu einer vertieften Demokratisierung durch erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Praktiken; viertens die Grundierung ihrer Untersuchung durch eine große Zahl von Interviews mit einschlägigen Akteurinnen und Akteuren des Handlungsfeldes.
Beide Arbeiten stellen wichtige Beiträge zur "zweiten Geschichte" des Nationalsozialismus dar: Hammersteins Drei-Länder-Vergleich führt eine breite Forschung erstmals in einer fundierten Gesamtdarstellung zusammen, die eine Vielzahl von Parallelen und wechselseitigen Verflechtungen belegen kann, während Wüstenberg gewissermaßen eine Tür öffnet zur wichtigen und bisher weitgehend vernachlässigten Erforschung der erinnerungskulturellen Prozesse "von unten".
Harald Schmid