Leonid Luks: Totalitäre Versuchungen. Russische Exildenker über die Ursachen der russischen Revolution und über den Charakter der europäischen Krise des 20. Jahrhunderts (= Geschichte. Forschung und Wissenschaft; Bd. 52), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2017, 331 S., ISBN 978-3-643-13666-4, EUR 49,90
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Die Aufsatzsammlung des bekannten russischen Ideenhistorikers Leonid Luks erscheint nicht zufällig im Jahr des hundertsten Jahrestags der russischen Revolution 1917. Die von Leonid Luks selbst getroffene Auswahl seiner bereits andernorts (zumeist in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte) zwischen 1986 und 2016 veröffentlichten Aufsätze betrifft Überlegungen zur russischen Revolution, die russische Denker bereits im vorrevolutionären Russland und später im Exil äußerten, in das sie nach 1917 vertrieben wurden.
Luks bietet mit seiner Aufsatzsammlung eine besonders für den in der russischen Ideengeschichte nicht bewanderten Leser eine außerordentlich instruktive und lesenswerte Lektüre. Petr Struve, Semon Frank, Nikolaj Berdjaev, Sergej Bulgakov, die heute bekanntesten Autoren des berühmt-berüchtigten Sammelbands Vechi, der 1909 die russisch gebildete Öffentlichkeit erregte, weil er die Intelligencija der Verklärung, ja der Vorbereitung der Revolution bezichtigte, werden in ihren politisch-philosophischen Reflexionen über den Ursprung und das Wesen der bolschewistischen Revolution anhand von zahlreichen Zitaten aus ihren nicht leicht zugänglichen Schriften dargestellt und von Luks kommentiert. Luks' Interesse gilt ebenfalls dem Historiker Georgij Fedotov, der in der Emigration die Entwicklung des sowjetischen Kommunismus und Stalinismus mit der des italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus in Verbindung brachte, sowie dem Philosophen Fedor Stepun als Vermittler zwischen der deutschen und der russischen Kultur in Deutschland. Zwei Aufsätze sind der 1921 im Exil entstandenen Bewegung der Eurasier als einem "Kapitel der Ideengeschichte des russischen Exils" (211) gewidmet. Die Eurasier, die sich mit der russischen Revolution und dem Bolschewismus von einem eher antiwestlichen Standpunkt auseinandersetzten, finden im postsowjetischen Neoeurasismus ein bedeutendes Echo. Einer ihrer prominentesten Wortführer, Alexander Dugin, steht Putins Forderung einer staatlichen Einheit Eurasiens nahe, worauf Luks allerdings nicht eingeht. Ein letzter Aufsatz seiner Sammlung geht den politisch-historischen Diskursen einiger Dissidenten und Bürgerrechtler in der poststalinistischen Sowjetunion nach. In ihrem Milieu nimmt Luks eine Fortsetzung des Gedankenguts der russischen Exildenker der 1920er- und 1930er-Jahre wahr.
Die von Luks kommentierten Texte der russischen Denker beschränken sich auf ihre Darstellung der ideengeschichtlichen und ideologischen Einschätzung der russischen Revolution; Ideengeschichte pur, in deren Mittelpunkt die russische Intelligencija als Trägerin der Ideen der Revolution steht. Die sozialen Ursachen der Februar- und Oktoberrevolution, die letztendlich zur Gründung des bolschewistischen Staatswesens Sowjetunion führten, werden von Luks schon deshalb nicht angesprochen, weil sie in den von ihm ausgewählten Texten nur ganz am Rande vorkommen. Dafür geht Luks den Einschätzungen der europäischen Krise, dem Aufkommen des italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus aus Sicht der von ihm ausgewählten russischen Exil-Denker ausführlich nach, womit er dem deutschen Leser ohne Zweifel intellektuelles Neuland öffnet, da der Westen diesen Argumenten kaum Gehör geschenkt hatte. Ob sich die von Luks ausgewählten Denker jedoch unter die Totalitarismusforscher einreihen oder im Hinblick auf ihre Aussagen zur europäischen Krise des 20. Jahrhunderts mit Hannah Arendt, Helmuth Plessner, Walter Benjamin u.a. vergleichen lassen, möge dahingestellt bleiben. Diese Frage wird sich dem interessierten Leser auch deswegen kaum stellen, da Luks' Darstellung sein Augenmerk auf die spezifisch russische Sicht lenkt, die einige russische Emigranten von den europäischen Problemen hatten.
Luks selbst geht von der Warnung der Vechi 1909 aus, die in dem radikalsten Teil der russischen Intelligencija den Hauptagenten der Revolution sah. Da Luks' Aufsätze unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeiten verfasst wurden, überschneiden sich ihre Themen zuweilen. Vor allem fehlt ein einheitliches Verständnis der durchaus nicht einheitlichen sozialen Gruppe der russischen Intelligencija. Diese wird in den einzelnen Aufsätzen sowohl mit dem Beiwort revolutionär als auch als Bildungsschicht oder sogar Bildungselite charakterisiert. Auch der Gebrauch des Begriffs totalitär, den Luks bereits den russischen vorrevolutionären Denkern in den Mund legt, ohne dass sie ihn selbst verwendet hätten, wird nicht weiter erklärt. Dasselbe gilt für die dem Philosophen Semon Frank zugeschriebene Totalitarismuskritik, die weder von Frank selbst noch von seinem Interpreten Luks auf den Begriff gebracht wird. Nicht, dass man etwa in der Einleitung zu Luks' Aufsatzsammlung eine Abhandlung über die verschiedenen Totalitarismustheorien erwartet hätte, wohl aber eine präzise Definition über seinen Gebrauch der heute wegen ihrer Verallgemeinerung etwas abgenutzten Termini Totalitarismus und totalitär.
Die einzelnen Aufsätze werden von ausführlichen bibliografischen Hinweisen auf die deutsche, russische und angloamerikanische Sekundärliteratur ergänzt, die zuweilen seitenlang den Haupttext unterbrechen und sich in einigen Aufsätzen auch wiederholen. Einschlägige französische oder italienische Veröffentlichungen bleiben unerwähnt, sofern sie nicht in einer Übersetzung vorliegen. Das ist ein Defizit, das keineswegs allein Leonid Luks' im Übrigen sehr sorgfältigen bibliografischen Untersuchungen anzulasten ist. Es ist jedoch bedauerlich für einen ideengeschichtlichen Zugang, der die russische Revolution im Zusammenhang mit der europäischen Krise der 1920er- und 1930er-Jahre als ein europäisches Phänomen verstehen will.
Fazit: Eine höchst aufschlussreiche Aufsatzsammlung, die dem mit der russischen Ideengeschichte wenig vertrauten Leser Sachbezüge und bisher unerschlossene Reflexionen zu einem tieferen Verständnis der geistigen Wurzeln der russischen Revolution aus den Augen führender russischer Denker vermittelt. Deren von Leonid Luks angeführte und kommentierte Überlegungen zur russischen Revolution sind gleichzeitig auch die Wesensmerkmale dessen, was der Philosoph Semen Frank als "russische Weltanschauung" und "russischen Geist" bezeichnete und an zahlreichen Beispielen bis heute noch lesenswert nachwies.
Jutta Scherrer