Benjamin Conrad / Lisa Bicknell (Hgg.): Stadtgeschichten. Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku (= Mainzer Historische Kulturwissenschaften; Bd. 28), Bielefeld: transcript 2016, 314 S., ISBN 978-3-8376-3274-3, EUR 34,99
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Seit dem Epochenwechsel von 1989/91 sind die Städte des östlichen Europa wieder ins Blickfeld einer kulturell und touristisch interessierten Öffentlichkeit, aber auch der historischen Forschung geraten. Dieses neue (oder: wiederentdeckte) Forschungsinteresse korrespondierte mit einer leichteren Erreichbarkeit der Städte selbst und besserer Zugänglichkeit von Archivmaterialien. Zugleich zeigte sich mit dem spatial turn in den Kulturwissenschaften eine erneuerte Bedeutung der Kategorie Raum, ebenfalls - aber nicht nur - mit starkem Bezug auf das östliche Europa. Beide Stränge sind starke Einflüsse für die Beiträger des Sammelbandes, die zum überwiegenden Teil als jüngere Forscher im Umfeld des Arbeitsbereichs Osteuropäische Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz von Jan Kusber tätig sind, dem der Band auch gewidmet ist. In ihm versammeln die Herausgeber Benjamin Conrad und Lisa Bicknell eine Fülle von Einzelfallstudien, die auf eigenen Erfahrungen - im Rahmen von Exkursionen oder individuellen Forschungsaufenthalten - in den behandelten Städten beruhen. Neben dem übergreifenden kulturhistorischen weisen die Aufsätze mithin auch einen gewissen ethnologischen Charakter auf, der Geschichte "vor Ort" nacherlebbar macht.
Bei der Beschäftigung mit der Geschichte einer Stadt sieht man sich wohl stärker als bei anderen Themen mit einer großen Vielfalt an potenziellen, einander vielfach überschneidenden Forschungsfeldern konfrontiert. Entsprechend heterogen scheint zunächst die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Studien zu Teilaspekten der jeweiligen Stadtgeschichte über erinnerungskulturelle, umwelt- und architekturgeschichtliche Ansätze bis hin zum "Dauerthema" Multikulturalität. Ähnlich pragmatisch wird mit dem Osteuropabegriff umgegangen - er schließt von Prag bis Baku und von St. Petersburg bis Hermannstadt Städte Osteuropas und Südosteuropas mit ein, auch ein Beitrag über das sibirische Irkutsk und den Baikalsee findet sich im Band. In der Gesamtschau zeigen die 16 Aufsätze dann aber eindrücklich die große Bedeutung der Gegenwart der Vergangenheit in der Untersuchungsregion auf. Sie verweisen damit auf zahlreiche "wiederkehrend[e] Motive" (15) in der Beschäftigung mit den dortigen Städten, seien es Metropolen und Hauptstädte von gesamteuropäischer Bedeutung oder regionale Zentren.
Diese Motive werden in drei thematischen Abschnitten gebündelt. Der erste unter der Überschrift "Musealisierung und Monumentalisierung" präsentiert Einblicke aus Riga, Warschau, Gori und Tiflis, Baku und Irkutsk. Die Bedeutung jüdischen Lebens in der und für die Geschichte des östlichen Europa zeigt beispielhaft der Beitrag von Svetlana Bogojavlenska zur Präsenz bzw. Nicht-mehr-Präsenz jüdisch konnotierter Orte im Stadtbild von Riga. Sie verdeutlichen verschiedene Abschnitte in der Geschichte der jüdischen Bevölkerung, über das Ankommen im städtischen Zentrum nach langer Verdrängung in die Außenbezirke, einhergehend mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und der wachsenden auch optischen Wahrnehmbarkeit zum Beispiel durch die Eröffnung der Großen Synagoge Anfang der 1870er Jahre, bis hin zur Entrechtung, Verfolgung und Ermordung unter der NS-Besatzung. Heute zeigen in der Hauptsache Denkmäler und Museen die jüdische Vergangenheit der Stadt. Mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung befasst sich auch die Studie von Bicknell zur ambivalenten Re-zeptionsgeschichte des Warschauer Kniefalls von Bundeskanzler Willy Brandt in Polen, die vielfach von innenpolitischen Debatten bestimmt war. 2000 wurde die Geste schließlich durch ein Denkmal gewürdigt, zunächst in einer Sichtachse zum "Denkmal der Helden des Ghettos". Seit 2014 befindet sich zwischen beiden Denkmalen zudem das Museum der Geschichte der polnischen Juden.
Die tagesaktuellen Deutungen und Kontextualisierungen von "Geschichte" werden auch im zweiten Abschnitt zu "Repräsentativität und Inszenierung" deutlich, mit Beispielen aus St. Petersburg, Moskau, Prag, wiederum Warschau, Minsk, Pressburg (Bratislava) und erneut Baku. Hans-Christian Petersen zeigt in seinem Beitrag zur stadträumlichen Präsenz der St. Petersburger Unterschichten, wie diese durch Verdrängung aus ihren Wohnräumen - etwa durch den Abriss der betreffenden Gebäude - zusätzlich zur sozialen Ächtung weiter marginalisiert wurden. Dabei korrespondiere das "Verschwinden [...] aus dem Stadtbild [...] mit dem weitgehenden Desinteresse der Historiographie an der Thematik" (150), und das bis heute: Die dominierenden, politisch geförderten historischen Narrative konzentrieren sich auf das hochkulturelle bzw. das imperiale Erbe, das sich zum einen besser vermarkten lässt, zum anderen im Rahmen der aktuellen Geschichtspolitik legitimatorisch eingebunden werden kann. Versuche der räumlichen Übertragung symbolhaft aufgeladener Handlungen untersucht Stefan Albrecht mit Blick auf die Krönungen der Habsburger als Könige von Ungarn, die seit Mitte des 16. Jahrhundert meist in Pressburg (Pozsony) erfolgten, im 19. Jahrhundert dann aber mehrfach in Ofen (Buda), wobei auch Pest und Gran (Esztergom) als Krönungsort diskutiert wurden. Heute greift unter anderem die slowakische Europapolitik auf diese Traditionen zurück, wenn in Bratislava anlässlich des EU-Beitritts beim alten Krönungshügel ein "Integrationshügel" benannt wurde.
"Multikulturalität im urbanen Raum" wird schließlich im letzten Abschnitt mit Blick auf Vilnius, Hermannstadt, Jassy und Lemberg untersucht. Hans-Christian Maner führt aus, wie stark Hermannstadt in der Außendarstellung und im Versuch der inneren Identitätsbildung gerade unter dem Siebenbürger Sachsen Klaus Johannis als Bürgermeister auf historisch begründete Traditionen von Offenheit und Toleranz setzte - Themen, die häufig aber auch im Kontext von "Mythen und Nostalgien" (279) zu sehen sind. Das Leben "vom Gestern" zeigt so zugleich den "Zwiespalt zwischen gestern und heute" (ebenda), wie ihn die hier versammelten Beiträge eindrucksvoll herausarbeiten - nicht zuletzt durch die zahlreichen Abbildungen (die man sich allerdings in Farbe und in größerem Format gewünscht hätte), die zum eigenen Entdecken einladen.
Martin Munke