Stephen Milder: Greening Democracy. The Anti-Nuclear Movement and Political Environmentalism in West Germany and Beyond, 1968-1983 (= New Studies in European History), Cambridge: Cambridge University Press 2017, XVIII + 280 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-1-107-13510-9, GBP 75,00
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Als die Mitglieder der badisch-elsässischen Bürgerinitiativen gegen das Atomkraftwerk Wyhl eine öffentliche Anhörung der Landesregierung zum geplanten Vorhaben am 9. Juli 1974 aus Protest verließen, trugen vier Männer einen Sarg mit der Aufschrift "Demokratie?" aus dem Saal. (78) Dieses Ereignis verdeutlicht anschaulich den Kern der Studie des amerikanischen Historikers Stephen Milder, zeigte diese Art des Protests doch symbolisch, wie die lokale Bevölkerung bestehende demokratische Verfahren zurückwies und neue Formen der demokratischen Partizipation erprobte. Am Beispiel der Proteste gegen die Kernkraftwerke im oberrheinischen Dreiländereck untersucht Milders Studie, die eine überarbeitete Fassung seiner Dissertation darstellt, die Bedeutung der Protestbewegung für die Weiterentwicklung der demokratischen Strukturen der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren. Um diesen Aspekten auf den Grund zu gehen, hat der Autor einen umfangreichen Quellenkorpus ausgewertet, bestehend aus Archivmaterialen der Anti-AKW-Bewegung, zahlreichen Periodika sowie einigen Interviews. Der Titel Greening Democracy deutet auf die zentrale These der Studie hin, wonach die neuen Protestformen der Anti-AKW-Bewegung sowie die spätere Institutionalisierung "grüner" Politik zu einer Modernisierung der demokratischen Praxis beigetragen hätten.
Die Monographie gliedert sich in zwei Teile: Der erste (Kapitel 1 bis 3) widmet sich in chronologischer Anordnung der Zeitspanne von Beginn des Widerstands gegen großtechnische Anlagen in der Oberrheinregion Anfang der 1970er Jahre bis zur neunmonatigen Besetzung des Bauplatzes für das geplante Atomkraftwerk in Wyhl 1975. Dabei wählt der Autor einen mikrohistorischen und transnationalen Zugriff, der bisherige Studien zu den Anfängen der Anti-AKW-Bewegung sinnvoll ergänzt, da er Transferprozesse aufzeigt und die abgebildete Linearität der Protestentwicklung kritisch hinterfragt. [1] Milder zeichnet das Bild einer regionalen, ländlichen, aber transnational verflochtenen Bewegung, deren Aktivisten sich, anstatt medizinische und technische Argumente gegen die Atomkraft vorzubringen, um die Qualität ihrer landwirtschaftlichen Nutzflächen und Erzeugnisse sorgten. Dabei diagnostiziert der Autor eine politische Entfremdung der Akteure von der landes- und bundespolitischen Ebene. Diese habe zunächst zu einem Vertrauensverlust in offizielle demokratische Verfahren geführt und später zu deren Boykott. Erst durch neue Protestformen, wie beispielsweise die Bauplatzbesetzung in Wyhl, erlangten die Gegner der Atomanlagen auch die Aufmerksamkeit der politischen Ebene. Milder zeigt, dass die Praxis der Bauplatzbesetzung aus der französischen Protesttradition entlehnt und bereits in der Schweiz (Kaiseraugst) praktiziert worden war, bevor sie in Wyhl ihre erfolgreichste Anwendung fand. Interessant ist das Resümee des Autors, wonach erst die vorübergehende gewaltsame Räumung des Bauplatzes den Protest aus seiner Provinzialität auf die Bühne der bundesdeutschen Öffentlichkeit hob und damit anschlussfähig für linke urbane Gruppen und deren bereits existierende Konzepte von Protest und Widerstand gegen die Staatsgewalt machte.
Im zweiten Teil der Studie (Kapitel 4-6) untersucht der Autor zunächst die Folgen der Besetzung für den weiteren Verlauf der Anti-AKW-Bewegung in der Bundesrepublik und zeichnet den Prozess ihrer politischen Institutionalisierung seit 1977 nach. Milder gelingt es nachzuweisen, dass die Proteste sowohl auf lokaler wie auf nationaler Ebene eine transformative Wirkung erzielten. Einerseits habe der lokale Protest Akteurinnen wie Petra Kelly inspiriert, den Kampf gegen die Atomkraft sowohl in einer europäischen Dimension zu betrachten als auch die Etablierung einer grünen Partei auf nationaler und europäischer Ebene voranzubringen. Andererseits habe sich durch die Beteiligung an lokalen Protestformen bei den einzelnen Akteuren die Einstellung zur Umwelt grundlegend geändert. In seinem Fazit verweist Milder auf die Erweiterung der partizipatorischen Prozesse durch die Anti-AKW-Bewegung und diagnostiziert die Bildung einer neuen demokratischen Subjektivität auf individueller Ebene. (242)
Bei der Betrachtung der Genese der badisch-elsässischen Protestbewegung im ersten Teil der Studie führt Milders ebenso mikrohistorischer wie transnationaler Zugriff zweifelsohne zu spannenden und fruchtbaren Ergebnissen. Während beispielsweise in der Forschung zu den Studierendenprotesten überwiegend urbane Akteure im Fokus stehen, erlaubt es Milders methodischer Ansatz, die Rolle der ländlichen Bevölkerung in den Blick zu nehmen und auf unterschiedliche Geschlechterrollen, beispielsweise bei der Bauplatzbesetzung in Wyhl (85), hinzuweisen. Zudem leistet Greening Democracy einen wichtigen Beitrag zur zeithistorischen Debatte um die "ökologische Wende" der 1970er Jahre. Milder wendet sich gegen das Argument eines normativen Wandels und gegen die Vorstellung, wonach ein wachsendes Bewusstsein für Umweltprobleme durch internationale Organisationen in die Gesellschaften diffundierte. Im Gegensatz dazu argumentiert Milder für eine "bottom-up"-Perspektive und ordnet seine Beobachtungen dem Begriff der "front porch politics" zu, den der Historiker Michael Foley für die amerikanische Umweltbewegung unlängst präzisierte. [2]
Mit der zunehmenden räumlichen Skalierung geht im zweiten Teil der Studie allerdings eine analytische Unschärfe einher, da der Bezug zu den badisch-elsässischen Bürgerinitiativen als zentralem Untersuchungsgegenstand aus dem Blick gerät. Des Weiteren bleibt kritisch anzumerken, dass offenbleibt, was der Autor genau unter einem liberalen demokratischen System versteht. Dies erscheint in doppelter Hinsicht problematisch, da es sich doch einerseits bei dem Begriff der Demokratie um die zentrale analytische Kategorie des Buches handelt und andererseits in der Studie mit Deutschland und Frankreich zwei politische Systeme verhandelt werden, ohne dass explizit auf deren Unterschiede eingegangen wird. Des Weiteren erwähnt Milder die von den Bürgerinitiativen angestrengten juristischen Verfahren und die zahlreichen erzwungenen politischen Anhörungen nur am Rande. Dies mag dem Fokus auf neue Protestformen geschuldet sein, dennoch veränderten beide Elemente nicht nur die demokratische Kultur der Bundesrepublik, sondern zählten neben der Bauplatzbesetzung zu den effektivsten politischen Mitteln der Bürgerinitiativen.
Zusammenfassend handelt es sich bei Greening Democracy um einen lesenswerten und wichtigen Beitrag zur Erforschung der transnationalen Anti-AKW-Bewegung. Das umfangreiche Quellenmaterial sowie der kurzweilige, erzählerische Stil des Autors machen das Buch für all diejenigen zu einem Gewinn, die an den Wurzeln, den Ausprägungen sowie an den Folgen der bundesdeutschen Anti-AKW-Bewegung interessiert sind.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Ulrich Eith: Von Wyhl bis Karlsruhe - Bürgerproteste, Neue Soziale Bewegungen und die Gründung der Grünen, in: Filbinger, Wyhl und die RAF. Die Siebzigerjahre in Baden-Württemberg, hg. von Philipp Gassert / Reinhold Weber, Stuttgart 2015, 113-136.
[2] Michael Stewart Foley: Front Porch Politics. The Forgotten Heyday of American Activism in the 1970s and 1980s, New York 2013.
Daniel Eggstein