Michael Vickers: Aristophanes and Alcibiades. Echoes of Contemporary History in Athenian Comedy, Berlin: De Gruyter 2015, XVI + 241 S., ISBN 978-3-11-043753-9, EUR 79,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Nancy Evans: Civic Rites. Democracy and Religion in Ancient Athens, Oakland: University of California Press 2010
Simon Goldhill / Robin Osborne (eds.): Rethinking Revolutions through Ancient Greece, Cambridge: Cambridge University Press 2006
Hugh Bowden: Classical Athens and the Delphic Oracle. Divination and Democracy, Cambridge: Cambridge University Press 2005
Das vorliegende Buch - überwiegend bereits 2008 abgeschlossen (201) - setzt eine Reihe von Publikationen des Autors fort, die von der Prämisse ausgehen, dass die darin untersuchten Dichter (Sophokles, Euripides, Aristophanes) zahlreiche Hinweise auf bedeutende Figuren aus Politik und Gesellschaftsleben Athens in ihre Werke eingefügt haben. Diese genossen hohe Aufmerksamkeit, weil sie aus den Kreisen der reichen oder adeligen oder machtvollen Bürger kamen, um welche die Komödien sich generell drehten (Platonius 1,64 ff). Besonders Perikles und Alkibiades, weiter auch deren Frauen und Freunde waren laut Vickers' geradezu zentral für Aristophanes, der sie in immer neuen 'Spiegelungen' auch in den auf die Vögel folgenden Komödien auf die Bühne brachte, auf die er sich hier konzentriert. Sie wurden zu einer Art Dauerthema des Theaters, da sich auch Euripides in mehreren Tragödien mit Alkibiades befasst habe. Vickers erschließt, dass im 4. Jh. sogar eine besondere Auswahl von Aristophanes' Stücken entstanden wäre, deren Gemeinsamkeit die Prominenz von Perikles und Alkibiades gewesen sei.
Gemäß diesen Leitlinien analysiert der Autor die Darstellung des umstrittenen Eupatriden in den letzten fünf Komödien des Aristophanes und ebenso in einigen Tragödien des Euripides, die vornehmlich Alkibiades' Karriere etwa ab 415/4 dramatisch begleitet hätten. Die ersten Kapitel skizzieren teils die Ergebnisse von Vickers' früheren, methodisch ähnlich angelegten Untersuchungen, teils Aristophanes' Arbeitsweise und deren Leistungsfähigkeit. Sie thematisieren das Funktionieren politischer Allegorien in der Komödie, von spöttischen Anspielungen und den Sinn von Wortspielen, die die Zuschauer auf politische Zusammenhänge hinwiesen und historischen Figuren identifizieren halfen. Aristophanes bediente sich nicht einfach einer Verkörperung des Alkibiades durch eine der Theaterrollen, sondern verteilte diverse Aspekte seiner Persönlichkeit und seines Agierens ggf. auf mehrere Rollen - "polymorphic characterization" heißt das vielgenutzte Mittel des Dichters, das zugleich als Interpretationsprinzip dient - oder, wieder anders, Figuren sind mehrfach 'besetzt' und beziehen sich einmal auf Alkibiades, dann wieder auf einen anderen Politiker. Chremylos z. B. ist im Ploutos erst als Perikles, dann als Alkibiades zu verstehen. Letzterer ist primär im Sklaven Karion verkörpert, der auf dessen Gefangenschaft bei Tissaphernes in Karien zielte. Solch ein Verfahren kam der Vorstellung einer so schillernden Person wie Alkibiades entgegen, freilich zu Lasten der inneren Kongruenz der betreffenden Komödienfiguren. Verschiedene Bausteine der Charakterisierung einer realen Person waren jedenfalls vom Publikum erst zu einem Gesamtbild zu vereinen. Nur so konnten die vielen Andeutungen begriffen werden und scheinbar unverständliche und widersprüchlich wirkende Textpartien bekommen einen Sinn.
Vickers Interpretationen knüpfen an Quellen an, die manche individuellen Details über Eigenheiten und Privatleben führender Politiker erwähnten. Aristophanes habe sich an diese wohlbekannten Besonderheiten mit seinen Allegorien angelehnt, um deren personalen Bezug für sein Publikum sofort erkennbar zu machen. Andeutungen und Hinweise spielten mit dem Bild, das sich die Öffentlichkeit von politischen 'Größen' machte, und 'identifizierten' diese, ohne sie offen zu benennen, was Aristophanes gegen Angriffe sicherte. Die Allegorien erklären überdies, warum der vielumstrittene Alkibiades in den späten Werken kaum direkt erwähnt wurde. Allegorische Präsentation, Anspielungen, Spott usw., die sich auf eine bestimmte Person bezogen, dienten einer politischen Kommentierung durch den Dichter. Denn die Auseinandersetzung mit Perikles, Alkibiades usw. gehörte zu einem Theater, in dem informell über Politik geredet und ihr ein Experimentierfeld geboten werden sollte. Ziel war verfeinerte Unterhaltung mit politischer Agenda des Aristophanes, den Vickers nach Keith Sidwell (2009) als Radikaldemokraten einordnet.
Nach ähnlichem Muster interpretiert er auch drei Dramen des Euripides. Im Ion rekonstruierte dieser die Abstammung des Alkibiades im Gegensatz zu Sophokles mit einem positiven Akzent. Helena und Andromeda zielten darauf, die Athener für die Rückkehr des Alkibiades einzunehmen. Euripides bewertete ihn positiv und warb für eine Aussöhnung mit ihm, wobei aufgrund seiner ambivalenten Sexualität die Titelheldin Helena für Alkibiades stehen konnte.
Problematisch an Vickers Deutungen ist, dass er Bezüge verschiedener Textstellen und dramatis personae auf Alkibiades (oder auf Perikles) an recht generellen 'Indizien' festmacht. Taucht ein junger Mann in den Dramen auf, so ist dieser als Anspielung auf den schon seit jungen Jahren politisch ambitionierten Alkibiades zu verstehen. Sprachliche Eigenheiten deuten jeweils auf einen Sprachfehler des Kleiniassohnes (Lambdazismus) oder auf die ihm eigene Rhetorik hin, welche andere Quellen belegen. Der Name der Spartanerin Lampito, zugleich Name der Mutter Agis' II., in der Lysistrate wiederum wird als Anspielung auf Alkibiades' notorische Affäre mit Timaia gedeutet. Und die Besetzung der Burg durch Lysistrate = Alkibiades und ihr Gefolge erinnerte an den Tyrannisverdacht gegen letzteren.
Mit solchen Mitteln positionierte sich Aristophanes in politischen Debatten um Alkibiades. Er selbst sah ihn sehr kritisch, wich aber von dieser Linie in den Fröschen (405) ab, als er sich für innere Versöhnung und die Rückkehr der átimoi stark machte und Alkibiades zutraute, Athen zu retten, wenn er nur eine perikleische Politik betreibe. Dieser Vorbehalt sei daran abzulesen, dass im Wettstreit der Poeten Aischylos = Perikles gegen Euripides = Alkibiades siegte! Politisch wirksam war Aristophanes nach Vickers mit seinen Warnungen und Appellen allerdings nur einmal, nämlich als er die (noch 405 beschlossene) Beendigung des Exils der átimoi forderte. Sie verhallten aber ansonsten, da die Athener trotz des überwiegend negativen Urteils der Komödie immer wieder auf Alkibiades gehofft haben.
Vickers Interpretationen setzt Folgendes voraus: ein mit aktuellen Dramen und ihren Protagonisten, mit feinen Anspielungen, Wortspielen, bestimmten Eigenschaften und konkreten Verhaltensweisen bekannter Politiker oder Assoziationen daran (z. B. die Gehweise des Alkibiades, seine Vorliebe fürs Baden, die Ausstattung seines Hauses usw.) bestens vertrautes, d. h. ein 'sophisticated' Publikum. Dieses vermochte die changierenden Identifizierungen von Politikern mit einer oder mehreren Komödienrollen, Allegorien und symbolische Satire zu verstehen, weshalb es gar nicht darauf ankommt, ob es das umstrittene Verbot einer direkten Karikierung von Politikern (seit 415) nun gab oder nicht (5 f). Doch ist durchaus bedenkenswert, ob die Theaterbesucher tatsächlich so urban, literarisch versiert und eben 'sophisticated' waren, dass der Versuch, Alkibiades, Perikles oder andere Personen aus deren Umfeld auf dem skizzierten Wege kenntlich zu machen, wirklich verstanden werden konnte und dies Zuschauer so fesselte, dass diese Prominenten jahrelang die Bühne 'bevölkern' durften ohne Überdruss zu erzeugen. Vickers postuliert jedoch gerade, dass Aristophanes die in Athen kursierenden Anekdoten, Karikierungen, Spott und Hohn, etc. betreffs Alkibiades und Perikles, deshalb aufgriff, weil sie ungemein weit verbreitet waren und seinen Stücken daher gesteigerte Popularität verhießen. Doch erscheint es fraglich, ob sie so überaus faszinierend waren, dass sie sogar noch Jahr(zehnt)e nach ihrem Tod wiederholt die Gestaltung und den 'Besetzungsplan' seiner Dramen in dem angenommenen Maße dominieren durften, wollte der Dichter erfolgreich bleiben. Immerhin haben sich ja nach 421 mit Nikias, Hyperbolos, Kleophon, Theramenes u. a. genügend Prominente als dankbare Ziele des Komödienspotts angeboten, die Alkibiades wenigstens zeitweilig den Ruf streitig machen konnten, der fesselndste der Zeitgenossen zu sein. Die unterstellte Fokussierung des Aristophanes auf Alkibiades und auch Perikles, ihre (erschlossene) 'Dauer-Bühnenpräsenz' hatte doch auch einen ermüdenden Zug und dies macht gemeinsam mit der weitgehenden Erfolglosigkeit seiner politischen Mahnungen (s. o.) schwer erklärlich, warum seine Stücke gleichwohl so geschätzt wurden.
Dank Vickers Verfahren gewinnt Alkibiades eine gewisse Omnipräsenz, die aber beträchtlich dahinschmilzt, wenn man Anspielungen ausklammert, die nur aufgrund eher allgemeiner Indizien auf ihn bezogen werden. Das reiche Anekdotenmaterial über Alkibiades, dessen Aufwertung er fordert, wird von Vickers auf Erzählungen, Gerüchte, Klatsch und Tratsch zurückgeführt, die bereits dem 5. Jh. kursierten und es daher erlaubten, jeden Hinweis auf ihn im Theater zu verstehen. Er rechnet nicht mit dem Erfindungsreichtum späterer Autoren, die versucht hätten, ihren vornehmlich negativ akzentuierten Geschichten über Alkibiades Originalität zu verleihen. Die Anekdoten werden nicht auf ihre historische Verlässlichkeit oder ihre Entstehungszeit hin geprüft, aber dennoch als Folie für Alkibiades' Darstellung in der Komödie genutzt, eine problematische Prämisse zur Beurteilung der Quellenlage, die auch Vickers' Interpretationsmethode und die Verlässlichkeit seiner Ergebnisse beeinträchtigt.
Bernhard Smarczyk