Klaus Schönhoven: Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Das Schicksal der 1933 gewählten SPD-Reichstagsabgeordneten, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2017, 245 S., ISBN 978-3-8012-0501-0, EUR 22,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Johannes Hürter / Thomas Raithel / Reiner Oelwein (Hgg.): »Im Übrigen hat die Vorsehung das letzte Wort «. Tagebücher und Briefe von Marta und Egon Oelwein 1938-1945, Göttingen: Wallstein 2021
Uwe Danker / Astrid Schwabe (Hgg.): Die NS-Volksgemeinschaft. Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen?, Göttingen: V&R unipress 2017
Nils Löffelbein: Ehrenbürger der Nation. Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs in Politik und Propaganda des Nationalsozialimus, Essen: Klartext 2013
Niels Weise: Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik, KZ-System und Waffen-SS, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013
Matthias Gafke: Heydrichs Ostmärker. Das österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei und des SD 1939-1945, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015
Das titelgebende Zitat ist bekannt. Es stammt aus einer Rede des SPD-Fraktionsvorsitzenden Otto Wels, die er am 23. März 1933 anlässlich der Reichstags-Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz hielt. Mit ihr rief er seine Fraktionskollegen dazu auf, geschlossen gegen das Gesetz zu stimmen, was sie schließlich auch taten - als einzige, denn die Kommunisten, die im Übrigen die Weimarer Demokratie aus anderen Gründen ablehnten, waren bereits verhaftet oder in den Untergrund getrieben worden. Während die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien für das Gesetz votierten, damit nicht nur das Parlament, sondern auch sich selbst politisch ausschalteten und den Nationalsozialisten den Weg zum Aufbau ihrer Diktatur ebneten, setzten 94 Abgeordnete der SPD mit ihrem "Nein" ein Zeichen für ihre politische Überzeugung. Daher gilt dieses Votum bis heute als eindrucksvolles Bekenntnis für die Demokratie und wurde Gegenstand zahlreicher historischer Darstellungen zur SPD sowie biografischer Einzelstudien zu Weggefährten von Otto Wels.
Mit den anwesenden 94 Abgeordneten war die damalige SPD-Fraktion aber nicht komplett. Schließlich waren bei den Wahlen zum 5. März 1933 120 Sozialdemokraten ins Parlament gewählt worden. Bei der Abstimmung am 23.3. fehlten also 26. In der Anwesenheitsliste waren 11 von ihnen als "krank" und 15 als unentschuldigt abwesend vermerkt. Was steckte hinter ihrem Fernbleiben? Waren sie zu feige gewesen zu erscheinen? Oder waren sie bereits emigriert?
Diesen Fragen nach persönlichen Motiven und politischen Zwangslagen von Mitgliedern der SPD-Reichstagsfraktion des Jahres 1933 wurde bisher nie nachgegangen. Sie bilden daher die Ausgangslage für die erste Darstellung ihres Schicksals, die 2017 erschienen ist. Ihr Autor Klaus Schönhoven, emeritierter Professor für politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim, führt darin die in zahlreichen biografischen Handbüchern [1] abgedruckten Informationen zu SPD-Politikern aus der Weimarer Zeit zu einer Kollektivbiografie zusammen und verknüpft sie mit individualbiografischem Perspektiven. So werden in jedem der fünf Hauptkapitel nach quantitativen sozialgeschichtlichen Ausführungen Einzelschicksale unterschiedlicher SPD-Politiker geschildert. Entweder belegen sie das zuvor Erläuterte oder ergänzen es um eine individuelle Besonderheit. Dabei werden neben prominenten Parteivertretern wie Otto Wels, Ernst Reuter oder Kurt Schumacher auch die weniger bekannten erwähnt, an die bis heute nur in bestimmten Regionen Deutschlands erinnert wird (wie Josef Felder aus Augsburg oder Friedrich Puchta aus Bamberg). So entsteht ein facettenreiches und spannendes Gesamtbild eines Personenkreises, der zu den von den Nationalsozialisten am meisten gehassten und verfolgten zählte.
Die ereignisgeschichtlichen Zäsuren geben die chronologische Gliederung des Buches vor. Nach einer allgemeinen Charakterisierung der 120 SPD-Fraktionsmitglieder hinsichtlich ihrer gemeinsamen Prägungen durch Generationszugehörigkeit und politischer Sozialisation vor 1933 folgt ein Gang durch die Jahre des 'Dritten Reiches' in fünf weiteren Kapiteln.
Den Ereignissen in den Wochen von der Machtübernahme bis zur Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes ist das zweite Kapitel gewidmet. Es gehört zu den wichtigsten dieses Buches, weil darin die Ausgangsfragen beantwortet werden. Schönhoven kann belegen, dass nicht erst mit dem 23. März, sondern bereits unmittelbar nach dem 31. Januar SPD-Mitglieder systematisch überwacht, bedroht, schikaniert, misshandelt und verhaftet worden waren. Daraus erklärt sich, warum 26 Mitglieder der Reichstagsfraktion bei der Abstimmung am 23. März nicht anwesend waren: Einige waren bereits ins Ausland geflohen, weil sie um ihr Leben fürchten mussten, andere auf Grund der ersten Bedrohungs- und Verfolgungserfahrungen erkrankt, wieder andere bereits in Foltergefängnissen oder ersten Konzentrationslagern des 'Dritten Reiches' inhaftiert worden. Diese Hintergründe waren mit den Vermerken "krank" oder unentschuldigt fehlend im Sitzungsprotokoll des Reichstags zum 23. März bewusst vertuscht worden.
Das dritte Kapitel befasst sich mit den Monaten bis zum Verbot der Partei am 22. Juni 1933. Besonders eindrücklich wirken darin folgende Befunde: 47 Parlamentarier der SPD waren bis zu diesem Zeitpunkt bzw. bis August 1933 bereits inhaftiert, 34 emigriert. "[F]ast jede bzw. jeder Einzelne [SPD-Parlamentarier] [...] [wurde] während dieser kurzen Zeitspanne in einer bis dahin unvorstellbaren Art und Weise mit den willkürlichen Herrschaftspraktiken des Nationalsozialismus persönlich konfrontiert." (111) Das Spektrum der Pressionen reichte hierbei von polizeilicher Erfassung und permanenter Überwachung über die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst, systematische Hausdurchsuchungen, öffentliche Demütigungen bei willkürlich stattfindenden Verhaftungen sowie das Festhalten in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Gleichzeitig sei ein solidarischer Zusammenhalt unter SPD-Anhängern zu beobachten gewesen, der sich z.B. in großer Teilnahme bei Trauerfeiern anlässlich verstorbener SPD-Abgeordneter öffentlich gezeigt habe.
Die Schilderung der Erlebnisse von SPD-Abgeordneten in den Konzentrationslagern bildet Kapitel vier. Nach einer kurzen Einführung in das KZ-System als Ort brutaler Gewalt und Willkür stellt Schönhoven heraus, dass Sozialdemokraten dort zwar versuchten, sich gegenseitig zu unterstützen und zusammenzuhalten, ein Schulterschluss mit den Kommunisten aber nur selten zustande kam. Zu tief waren die Gräben zwischen den beiden politischen Lagern. Von der SS wurden diese noch zusätzlich vertieft. Dass prominente Sozialdemokraten als "Bonzen" diffamiert und mit besonders schweren, demütigenden Arbeitseinsätzen bestraft wurden, belegen Einzelfallschilderungen.
Im fünften Kapitel werden die Verhaftungswellen thematisiert, unter denen Sozialdemokraten während des Zweiten Weltkriegs zu leiden hatten. Ein Viertel der SPD-Fraktionsmitglieder war nach einer ersten Haft im Jahr 1933 erneut zu Kriegsbeginn im September 1939 und schließlich im Sommer 1944, bei der sog. "Aktion Gewitter" im Zuge des Attentats vom 20. Juli 1944 festgenommen worden. Trotz permanenter Bedrohung und wiederholter Verhaftung hatten einige von ihnen Kontakte zu Widerstandsgruppen geknüpft. Doch wiederholte KZ-Haft, insbesondere die dort erlittenen Misshandlungen und Entbehrungen führten bei vielen Angehörigen dieses Personenkreises schließlich zu bleibenden gesundheitlichen Schäden oder zum Tod.
Im sechsten Kapitel steht die Exilphase im Zentrum. Dabei wird auf eine erneute historische Abhandlung der Parteigeschichte in der Emigration verzichtet. Vielmehr werden ausgewählte Biografien der insgesamt 42 emigrierten SPD-Parlamentarier vorgestellt.
Im siebten und letzten Kapitel folgt anstelle einer abschließenden Zusammenfassung ein Blick auf die sozialdemokratische Erinnerungspolitik nach 1945. Dieser fällt ernüchternd aus. Obwohl 70 der 120 SPD-Parlamentarier das Kriegsende überlebt hatten, taten sie sich schwer, über das Erlebte zu sprechen. Zum einen wollte damals niemand die Geschichte ihrer Leidenswege hören. Zum anderen steckte die SPD programmatisch in einem Dilemma: Wie konnte sie den Blick zurück auf die NS-Verbrechen werfen, wenn sie sich als demokratische Fortschrittspartei präsentieren wollte? So dauerte es bis in die 1960er Jahre, bis ein gesellschaftliches Bewusstsein geschaffen war, um über den Nationalsozialismus zu diskutieren. Und es bedurfte einer Person wie Willy Brandt, der sowohl innerhalb der SPD als auch darüber hinaus Ende der 1970er Jahren für einen Perspektivwechsel in der öffentlichen Debatte sorgte, indem er dafür plädierte, den 23.3. - das "Nein" der SPD-Fraktion zum Ermächtigungsgesetz - als Schlüsselereignis im Widerstand gegen die NS-Diktatur anzuerkennen.
Klaus Schönhoven reiht sich mit seiner Darstellung in diese Interpretationslinie ein. Sein Buch ist besonders jungen Lesern zu empfehlen, die die Etablierung der NS-Diktatur verstehen und sich über den aufopfernden Einsatz von SPD-Politikern für die Demokratie umfassend informieren wollen.
Anmerkung:
[1] Siehe Wilhelm-Heinz Schröder: Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867-1933. Biographien, Chronik, Wahldokumentation. Ein Handbuch, Düsseldorf 1995; Martin Schumacher (Hg.): M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933 - 1945. Eine biographische Dokumentation. Mit einem Forschungsbericht zur Verfolgung deutscher und ausländischer Parlamentarier im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich, 3. Auflage, Düsseldorf 1994; Walter Hammer: Hohes Haus in Henkers Hand. Rückschau auf die Hitlerzeit, auf Leidensweg und Opfergang Deutscher Parlamentarier, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1956; Der Freiheit verpflichtet. Gedenkbuch der deutschen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert, hg. vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 2. Auflage, Berlin 2013.
Doris Danzer