Christian Neddens / Amalia Barboza / Michael Hüttenhoff et al. (Hgg.): Spektakel der Transzendenz. Kunst und Religion in der Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, 296 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8260-5939-1, EUR 58,00
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Revival und Rekontextualisierung sakraler Motive und Pathosformeln in bildender Kunst und Populärkultur, die Auseinandersetzung mit dem Transzendenten, der Topos des Künstlers als Heilsbringer, die auratische Aufladung von Bildern und Bauten, die Diskussion um die Legitimation zeitgenössischer Kunst im Sakralraum und nicht zuletzt die Frage nach der moralischen Vertretbarkeit religionskritischer Karikaturen bilden in den letzten Jahren den vielfältigen Nährboden eines sich ständig ausdifferenzierenden Diskursfeldes. [1] Im Zentrum steht das spannungsreiche Verhältnis von Kunst und Religion im postsäkulären Zeitalter. Hier reiht sich auch die Saarbrücker Ringvorlesung Spektakel der Transzendenz. Kunst und Religion in der Gegenwart ein, die im Sommersemester 2015 in den Räumlichkeiten des Saarlandmuseums stattfand.
Der gleichnamige Sammelband umfasst sechzehn Beiträge aus den Disziplinen Kultur- und Kunstwissenschaften, Theologie, Religionspädagogik und Philosophie sowie bildender Kunst (Stichwort Artistic Research) und kuratorischer Praxis. Neben einem kurzen Geleitwort von Roland Mönig (7f.) sowie einer Einleitung der Herausgeber (9-13) bilden die Beiträge von Beat Wyss, Andreas Mertin und Jean-Pierre Wils einen fundierten Auftakt.
Beat Wyss skizziert in seinem Beitrag die Entwicklung von der christlichen Kunst über die Bildkultur der Romantik mit einem "zum Protestantismus konvertiert[en]" Kunstsystem der Moderne (20) bis hin zur quasi "katholischen Postmoderne" mit Fetisch und Pseudo-Devotionalien seit der Pop Art (24). Die auf verschiedener Ebene nachweisbare 'Rückbindung' der Kunst an religiöse Zusammenhänge kulminiere zum einen in einem Angleichungsprozess von religiöser Frömmigkeit an Gefühle einer ästhetischen Erfahrung sowie zum anderen in einer Abwanderung von "Ritualen der Sinngebung" in Institutionen des Kunstsystems. Nicht mehr Wallfahrtsorte zögen das säkulare Publikum an, sondern massentaugliche Blockbuster-Ausstellungen, in denen das Kunstwerk als "Reliquie eines souveränen Bildaktes" und der Kunstbetrieb selbst als eine neue "Weltreligion" erscheine (27).
Andreas Mertin möchte die Erfahrungsräume von Kunst und Religion - ausgehend von Georg Simmel - dahingegen als eigenständige Bereiche verstanden wissen. Trotz einer nicht zu leugnenden Allianz zwischen Kunst und Kirche im Zeitraum von 800 bis um 1650 seien die ästhetischen Momente nur scheinbar hinter der Repräsentation von Religion zurückgetreten. So sei das Differenzerleben der beiden nicht per se miteinander verschmolzenen Erfahrungsräume seit dem 14. Jahrhundert durch den fortschreitenden Autonomisierungsprozess der Kunst immer stärker spürbar geworden (36, 38).
Schließlich stellt Jean-Pierre Wils die Frage, inwiefern es in der Gegenwart überhaupt noch 'sprechende' religiöse Bilder geben könne. Auch wenn Museen - anders als bei Wyss - keine Ersatzkirchen seien, so wohne auch autonomer Kunst ein quasi religiöses Potential inne, den Zugang zur Transzendenz offen zu halten (56). Identifizieren ließe sich religiöse Kunst aufgrund ihrer Rückbindung an Bildtraditionen und räumliche Kontexte sowie einer im Kollektiv verankerten Anerkennung. Grundsätzlich sei die zeitgenössische Kunst in der Lage, verwaiste Sakralräume und verstummte Kultbilder durch ihr Hinzutreten neu zu beleben und religiöse Inhalte zu 'aktualisieren' (57f.).
Höhepunkte des Buches bilden u.a. die von Künstlerinterviews und kuratorischen bzw. religionspädagogischen Erfahrungsberichten flankierten Beiträge von Wolfgang Ullrich, Silvia Henke, Salvatore Pisani, Sigrid Ruby und Christian Neddens. Wolfgang Ullrich widmet sich dem im 20. Jahrhundert aufkommenden Phänomen eines "Aschermittwoch der Kunst", der - laut ihm - die Chance böte, die Künstler auf ihre Erfahrung von Scheitern und Illusion einzuschwören und so jeglicher "Konkurrenz zwischen Kunst und Kirche einen Riegel vorzuschieben." (77) Ausgehend vom Œuvre Thomas Hubers zeigt er das paradoxe Verhältnis von Bilderskepsis und künstlerischem Vermögen auf (79). Silvia Henke reflektiert über die zeitgenössische Performance in Bezug auf religiöse Rituale und führt die "Kategorie des Imaginären" (93) als ein Bindeglied zwischen Spektakel und Transzendenz in die Diskussion ein. Ausgehend von der gesteigerten Aufmerksamkeit für ökologische Zusammenhänge in der westlichen Kunst seit den 1960er-Jahren widmet sich Sigrid Ruby den wirklichkeitswerken des Niederländers Herman de Vries, der dem Betrachter die selbstregulierende Kraft der Natur - jenseits aller religiösen Verheißungen - vor Augen stellt. Durch seine Anordnungen wird nicht nur die "ästhetische Subjektivität des Künstlers" (154), sondern auch das alttestamentarische Modell von der Herrschaft des Menschen über die Erde in Frage gestellt (147). Schließlich stellt Salvatore Pisani die in der mitteleuropäischen Kirchenbaukunst des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Entemotionalisierung der Raumerfahrung (am Beispiel Frankreichs) zur Diskussion. Leere und Nichts sowie ein abstraktes Licht- und Farbenspiel ersetzen die in der Vormoderne durch eloquente Bildprogramme und Inszenierungsstrategien erreichte Gotteswahrnehmung. Der Sakralraum entwickele sich - neben immer wieder nachweisbaren Rückgriffen auf 'archaische' Vorformen - zu einem Raum der Stille und ermögliche eine von Affekten "geläuterte Selbsterfahrung" (109).
Einen würdigen Abschluss bilden Christian Neddens' Ausführungen über die Polyvalenz der Christusbilder in der zeitgenössischen Kunst, die von den Künstlern in den letzten Jahren als Möglichkeit verstanden werden, über "elementare Fragen des Menschseins" nachzudenken (190). Darin läge die doppelte Chance, zum einen Bilder nicht bloß religiös zu vereinnahmen und zum anderen Bezüge zu lebensweltlichen Bereichen "wieder sichtbar" zu machen (193). In der sich anschließenden "theologischen Nachlese" erweist sich das Verhältnis von Kunst und Religion als ein durch vier Modelle markiertes Problem: Entweder gibt es ein 'Nachleben' religiöser Bildwelten im Kunstsystem der Gegenwart oder die differenten Erfahrungsräume stehen in einem wie auch immer gearteten Resonanzverhältnis, das einem durch Kohärenz geprägten Gefüge, nachdem ästhetische und religiöse Erfahrungen einander wechselweise bedürfen, diametral entgegensteht (273-278).
Der Mehrwert des Bandes beruht zweifellos auf dem interdisziplinären Zugriff an der Schnittstelle zwischen Geschichte, Theorie und Kunstpraxis. Allerdings hätte dieser Ansatz durch eine bessere Gliederung der in Form und Umfang disparaten Beiträge und etwaige Zwischenkommentare stärker profiliert werden können. Auffällig ist zudem die möglicherweise bewusste Abstinenz gegenüber religiösen Karikaturen und transkulturellen Skandalbildern nach dem Muster von Chris Ofilis The Holy Virgin Mary. [2] Dabei hätten solche Werke, wie etwa die Gemälde und Grafiken des chinesischen Künstlers Yongbo Zhao, die religiöse Strukturen quasi aus der Außenperspektive analysieren, dem Buch eine wesentliche Facette hinzufügen können. [3]
Insgesamt weist der schöne, auf hochwertigem Papier gedruckte Band, der das Verhältnis von Kunst und Religion einer Revision unterzieht, einige durchaus spektakuläre Glanzlichter in Form gedanklicher Neuansätze auf und lädt zum Weiterdenken ein.
Anmerkungen:
[1] Verwiesen sei hier - neben den rezenteren, in der Einleitung benannten Ausstellungen (9) - etwa auf den Workshop Holy Shit - Das Heilige in Literatur und Kunst (Universität zu Köln, 29.-30.05.2017), die Ringvorlesung Medien und Sakralität: Phänomene anderer Zeitlichkeit in der transkulturellen Moderne (Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, 25.10.2017-31.01.2018) sowie auch das Proseminar Nipple Jesus: Das Spiel mit sakralen Formen in der Kunst der Moderne, das der Verfasser im Wintersemester 2017/18 am Institut für Kunstgeschichte der JLU Gießen durchführte.
[2] Chris Ofili: The Holy Virgin Mary, 1996. Öl. Acryl, Kunstharz, Papier-Collage, Glitzer, Pinnwandstecknadeln und Elefantendung auf Leinwand, 243,8 × 182,9 cm. London, The Saatchi Gallery. Dazu vgl. W.J.T. Mitchell: Anstößige Bilder, in: Ders.: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, 2. Aufl., München 2012, 106-128.
[3] Vgl. Semjon Aron Dreiling: Gefeiert und doch unterschätzt: Yongbo Zhao als Schöpfer transkultureller Bildwelten, in: Der Künstler als Augenöffner und Seher? Yongbo Zhaos Grenzgang zwischen europäischen und chinesischen Bildkulturen, hg. von dems., unter Mitarb. von Jennifer Jäger, Weimar 2018, 9-19, hier bes. 10-12, 17f.
Semjon Aron Dreiling