Matthew Frank: Making Minorities History. Population Transfer in Twentieth-Century Europe, Oxford: Oxford University Press 2017, XX + 443 S., ISBN 978-0-19-963944-1, GBP 85,00
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Der britische Historiker Matthew Frank ist bereits durch seine Studie über die britischen Planungen der Vertreibung und Zwangsumsiedlung der Deutschen in Mittel- und Osteuropa nach 1945 hervorgetreten. [1] Sein neuestes Werk beschäftigt sich - wie eine ganze Reihe vergleichender Studien der letzten zwei Jahrzehnte - mit der Geschichte des organisierten Bevölkerungstransfers im 20. Jahrhundert. Obschon Frank deutsche Arbeiten zur Kenntnis nimmt, basiert seine Studie neben validen Aktenstudien primär auf angelsächsischen Forschungen. Statt auf den heute dominanten Terminus der "ethnischen Säuberung" greift Frank auf den älteren Begriff des "Bevölkerungstransfers" (population transfer) zurück, ohne dadurch dem Dilemma politisch vorbelasteter Forschungsbegriffe zu entkommen.
Frank gliedert seine Arbeit in neun Kapitel. Das erste beschäftigt sich mit intellektuellen "Phantasien der ethnischen Entmischung" (17) und mit ersten Ansätzen ihrer praktischen Umsetzung auf dem Balkan zwischen 1912 bis 1922. Das zweite Kapitel dreht sich um die erste großflächige Zwangsumsiedlung unter internationaler Patenschaft in Form des griechisch-türkischen Transferabkommens von Lausanne 1923. Das dritte Kapitel richtet seinen Blick auf totalitäre Neuordnungsversuche in der Frühphase des Zweiten Weltkriegs, beginnend mit Hitlers Umsiedlungsabkommen mit Italien, den baltischen Staaten und der Sowjetunion zwischen 1939 und 1941 und ergänzt durch Bevölkerungstransfers auf dem Balkan 1940/41. Das vierte Kapitel betrachtet die Planungen auf alliierter Seite während des Zweiten Weltkriegs, wobei der Entwicklung in den USA - namentlich der jüdischen Kriegsforschung - einige Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Kapitel 5 bis 7 widmen sich den unterschiedlichen Etappen der bekannten alliierten Planungen und der Durchführung der Zwangsumsiedlung von über 12 Millionen Deutschen. Das achte Kapitel wartet hingegen mit den alliierten Verhandlungen zum vergleichsweise wenig bekannten Transfer der ungarischen Minderheit aus der Tschechoslowakei auf. Das neunte Kapitel befasst sich mit dem "Nachleben" des laut Frank ab 1946 international ausgebremsten Konzepts des "Bevölkerungstransfers" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese wird von Frank als Ära der Menschenrechte begriffen, doch zeigt er zugleich, dass Zwangsmigration als vermeintliche "ultima ratio" ein weiterhin verfügbares politisches Planungsmittel blieb.
Dieser Zuschnitt der Studie führt zu wertvollen Erkenntnissen, aber auch zu Verkürzungen. Erkenntnisreich ist die Überschreitung der Zäsur von 1945/50, zumal sich diese nicht nur auf gut untersuchte Fälle wie Bosnien beschränkt, sondern neben Zypern auch Nordirland in den Fokus rückt. Damit wird das Phänomen des Bevölkerungstransfers nicht nur als mittelosteuropäisches Problem verortet, wie es sonst oft geschieht. Verkürzend wirkt hingegen der Einstieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts, was eine lange Vorgeschichte im 19. Jahrhundert ausblendet und nicht mehr dem Stand der internationalen Forschung entspricht. Der Bevölkerungstransfer war - anders als Frank meint - keine bloß europäische Idee, die erst um 1900 entstanden wäre. Nur ephemer streift Frank eine ältere und außereuropäische Traditionslinie - die gegen indigene Völker gerichtete "Removal"-Politik der USA (244f.).
Ebenso erhellend wie verkürzend wirkt zudem die methodische Neigung Franks zu "großen Männern, die Geschichte machten". Gerade im ersten Teil des Buches dominieren Einzelpersönlichkeiten, deren Hauptverantwortung aber vor einem leider fehlenden Kontext weiterer Akteure valide zu umreißen wäre. Neben der persönlichen Rolle von Politikern oder Wissenschaftlern gibt es auch das vielstimmige Grundrauschen eines Transfer-Diskurses, der zu bestimmten Zeiten an Plausibilität gewann oder wieder verlor. Diesen doppelten Boden vermag die zweite Hälfte des Buches sehr viel plausibler zu machen.
Das erste Kapitel fokussiert allzu stark auf zwei - zugegeben wichtige - Einzelakteure. Siegfried Lichtenstaedter und mehr noch Georges Montandon haben bereits in anderen Studien große Beachtung gefunden. Lichtenstaedters Position im deutschen Entmischungs-Diskurs, der weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht, kann jedoch erst durch Konfrontation mit dem parallelen alldeutschen Diskurs exakt herausgearbeitet werden. Im Falle Montandons müsste man sich um eine Rekonstruktion entsprechender Diskurse in Frankreich bemühen, über die wir bislang fast nichts wissen. Erst recht werden russische oder panslawistische Diskurse vor und im Ersten Weltkrieg bislang kaum berücksichtigt. Wenn man dennoch, wie Frank, lediglich auf zwei Protagonisten fokussieren möchte, sollte wenigstens deren Œuvre vollständig einbezogen werden; das ist jedoch bei Lichtenstaedters letzter wichtiger Publikation von 1941 nicht der Fall.
Franks inhaltliche Charakterisierung der Ansätze von Lichtenstaedter und Montandon kann nicht überzeugen: Zwar ist es richtig, dass die favorisierte Terminologie des Transfers klinische Sauberkeit suggiert, doch war das Transfer-Konzept - anders als Frank behauptet - keineswegs eindeutig durch Freiwilligkeit staatlicher Vereinbarungen gekennzeichnet. Im Hinblick auf Deutschland legte Montandon auf Zustimmung zur von ihm geplanten "transplantation massive" nicht allzu viel Wert, und auch Lichtenstaedter ließ mit Blick auf Russland und andere slawische Staaten vieles im Ungefähren. Frank hätte des Weiteren vorsichtiger über die zeitgenössische Wirkung bzw. von ihm behauptete Wirkungslosigkeit beider Autoren (30f.) urteilen sollen, denn eine umfassende Wirkungsgeschichte fehlt bislang. Doch schon heute wissen wir, dass Lichtenstaedters Transfer-Konzept für das Osmanische Reich schon vor dem Ersten Weltkrieg ins Englische übersetzt wurde und - ähnlich wie spätere Studien Montandons - seinen Weg in die Privatbibliothek Kemal Atatürks gefunden hat. Solch jung-türkisches Interesse an Transferplänen könnte erklären, dass auch die osmanische Seite 1913/14 ebenso wie Griechenland für die 'Erfindung' dieses Transfers in Anspruch genommen werden kann - und nicht nur der von Frank isoliert betrachtete griechische Premier Venizelos (36). Tieferes Wissen um die jungtürkische Vorgeschichte - etwa beim griechischen Minderheitenproblem sowie beim Armenier-Genozid - lässt Frank auch im Kapitel zu Lausanne nicht aufscheinen.
Verdienstvoll hingegen ist die Ergänzung der NS-Umsiedlungspolitik ab 1939 durch die teils aufgezwungenen, teils eigendynamischen Balkan-Transfers des Zweiten Weltkriegs. Ausgezeichnet sind die Passagen zu den alliierten Transfer-Positionen, in denen neben Befürwortern auch dezidierte Gegner aufscheinen und vor allem der Forschungsbeitrag osteuropäischer Juden für die US-Debatte nachgezeichnet wird. Diese Diskursgeschichte könnte um Beiträge jüdischer US-Einwanderer ergänzt werden, die nicht aus Russland oder Polen, sondern aus dem Habsburgerreich mit seiner ganz eigenen Minoritäten-Tradition stammten und die sich deshalb dezidiert gegen exklusiven Ethno-Nationalismus richteten. Hätte Frank dies getan, so wäre ihm vielleicht die Fehleinschätzung nicht unterlaufen, den tschechoslowakischen Transfer der Sudetendeutschen als politischen und weniger als rassistischen Akt zu begreifen. In Wahrheit ging es um beides: Neben das Ziel der politischen Kollektivbestrafung trat das Ziel einer ethnischen "Säuberung", durch welche die Tschechoslowakei ausdrücklich zu einem "slawischen Staat" gemacht werden sollte. Erfreulich differenziert wird hingegen die Bevölkerungspolitik der Sowjetunion skizziert, die sich nicht in Vertreibungspolitik erschöpfte, sondern ein ebenso vielfältiges wie widersprüchliches Instrumentarium für den Umgang mit Nationalitäten bereithielt. Besonders wichtig an der Darstellung der Nachkriegs-Transfers ist, wie es Frank gelingt, den wachsenden Dissens unter den Alliierten herauszuarbeiten.
Neuland betritt er auch im letzten Kapitel, das sich Fallstudien im späten 20. Jahrhundert widmet. Franks Entscheidung allerdings, die Zwangsmigrationen der Jahre 1947/48 sowohl in Palästina als auch in Indien-Pakistan einfach dadurch auszuklammern, dass er sie für "nicht analog" zu den europäischen Präzedenzfällen erklärt (365), ist äußerst fragwürdig. Seine Begründung, diese Fälle seien nicht internationalisiert gewesen, stimmt zumindest für Palästina schon seit Mitte der 1930er Jahre eindeutig nicht, denn Völkerbund und UN waren beteiligt; und dass der indische Diskurs seit 1940 auf europäische Präzedenzfälle deutlich Bezug nahm, spielt offenbar für Franks Ausklammerung ebenso wenig eine Rolle wie die transkontinentale Verklammerung durch die britische Politik, die Philipp Ther kürzlich herausgestellt hat. Unter den von Frank gewählten drei Fallstudien interessiert vor allem Nordirland, denn sowohl Zypern als auch Bosnien können als imperial geschützte Sonderzonen mit verspäteten Nationalisierungs- und "Säuberungs"-Konflikten verstanden werden. Für die grüne Insel kann Frank hingegen zeigen, dass Präsident Éamon de Valera 1938 nicht nur das Münchner Abkommen als Blaupause begriff, sondern in den 1960er-Jahren auch Zypern als "hilfreiche Analogie" für die Alternative Assimilation oder Aussiedlung betrachtete. Noch überraschender erscheint, dass noch in den 1980er-Jahren Margaret Thatcher mit einem Bevölkerungstransfer als Lösung für das fortschwelende irische Problem geliebäugelt hat.
Alles in allem bietet Frank einen überwiegend soliden Überblick über die Geschichte des Bevölkerungstransfers als internationales Konzept zur Lösung ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert. Er hat Recht mit seiner Betonung, dass dieses Konzept gesamteuropäisch gewesen sei - auch wenn es fast nur in Mittel- und Osteuropa zur Anwendung gelangte. Er hat nicht Recht mit seiner systematischen Ausblendung der Entwicklungen vor dem 20. Jahrhundert und außerhalb Europas. Seine Überbetonung großer Einzelpersonen ist zu relativieren durch die Einbeziehung zahlloser sonstiger Akteure im Transfer-Diskurs und dessen Überführung in praktizierte Gewaltpolitik. Frank hätte überdies den gänzlich anderen - nämlich rassenimperialistischen - Ansatz der NS-Bevölkerungspolitik ernst nehmen sollen, statt diese zumindest partiell mit der Transferpolitik der Westmächte gleichzusetzen.
Anfang und Ende seiner Studie verbindet Matthew Frank mit Hinweisen auf zahlreiche Nobelpreisträger des 20. Jahrhunderts, die mit der Idee des Bevölkerungstransfers sympathisiert haben. Das ist eine kritische Lektion zur Korrektur unserer selektiven Erinnerungen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Matthew Frank: Expelling the Germans. British Opinion and Post-1945 Population Transfer in Context, Oxford / New York 2007.
Michael Schwartz