Bernhard Gißibl / Isabella Löhr (Hgg.): Bessere Welten. Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften, Frankfurt/M.: Campus 2017, 405 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-50613-5, EUR 29,95
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Der von Bernhard Gißibl und Isabella Löhr herausgegebene Band setzt sich mit einer bereits in den Geisteswissenschaften seit einem Vierteljahrhundert laufenden Debatte auseinander, die sich allerdings in der Geschichtswissenschaft erst in ihrer Anfangsphase befindet. Als Herausforderung definieren die beiden Herausgeber den kosmopolitischen Ansatz und stellen "eine kritisch-reflektierte Aktivierung von Kosmopolitismus als Analyseperspektive, die das konzeptionelle Instrumentarium von transnationaler und Globalgeschichte ergänzen kann" (11) in Aussicht. In einer anregenden, den Forschungsstand der Nachbardisziplinen (vor allem in der politischen Philosophie und in der Soziologie) aufarbeitenden Einleitung werden sowohl die Zielsetzung des Buchs als auch die epistemologischen Vorbehalte mancher Historiker dargestellt. In diesem Band wird keineswegs ein global turn ausgerufen, es wird vielmehr versucht, den tatsächlichen wissenschaftlichen Gewinn einer Aneignung dieser Begrifflichkeit zu erörtern. Der Schwerpunkt der Analysen liegt in der Frage nach dem "Umgang mit Diversität, Differenz und dem Anderen" (11).
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich alle Beiträge mit Fragestellungen befassen, die in historische Kontexte eingebettet sind und die den Möglichkeiten eines in soziokulturellen Praktiken verankerten Kosmopolitismus nachgehen. Die behandelten Themen beziehen sich sowohl auf konfessionelle und kulturspezifische Sozialgruppen (Mirjam Thulin über Judentum, Katharina Stornig über katholische Kongregationen, Soumen Mukherjee über muslimische Organisationen) auf intellektuelle und soziale Netzwerke (Joachim Berger über Freimaurer, Daniel Laqua über Freidenker), als auch auf politisch-institutionelle Fragen im europäischen und außereuropäischen Kontext (Andreas Fahrmeier über die Funktion von Pässen, Miriam Rürup über Staatenlosigkeit, Stefanie Michels über globales Bewusstsein in Duala, Nora Lafi über kosmopolitische Herrschaftsinstrumente im Osmanischen Reich, Jürgen Dinkel über transnationale Strategien innerhalb von Staatengemeinschaften, Andrea Rehling über die Kosmopolitik der UNESCO). Der Beitrag von Corinne Pernet und Isabella Löhr ist außerdem einer Individualität gewidmet. Dadurch entsteht ein breites Spektrum an unterschiedlichen Themen, Herangehensweisen und Größenordnungen, bei dem sich dennoch eine Kohärenz erkennen lässt.
Wenn man versucht, den gemeinsamen Nenner in den im Sammelband vertretenen Auffassungen von Kosmopolitismus zu bestimmen, dann können drei Merkmale identifiziert werden. Erstens wird ein Aspekt hervorgehoben, der von Ulf Hannerz und Ulrich Beck (z. B. 286) übernommen wird. Wesentlich für diese Begrifflichkeit sind nicht nur die Bereitschaft, mit anderen Kulturen in Beziehung zu kommen, sondern auch die Fähigkeiten, entsprechende Kompetenzen im Umgang mit der Vielfalt der Kulturen zu entwickeln und diese Vielfalt als solche anzuerkennen. Diese erste Leitidee wird von Ulrich Beck als "Anerkennung der Andersheit der Anderen"[1] definiert. Daraus lässt sich zweitens die Überzeugung ableiten, dass der für die Geschichtswissenschaft relevante Kosmopolitismus mit jeglicher eurozentrischen Tendenz bricht. Interessanterweise wird mehrmals betont, dass ausgerechnet Vertreter der postcolonial studies wie Homi K. Bhabha oder Dipesh Chakrabarty den Begriff "Kosmopolitismus" reaktivieren und damit das Anliegen haben, eine dezentrierte, "provinzialisierte" Definition zu fördern (23-24). Zum dritten Aspekt, der in diesem Band für Konsens sorgt: Kosmopolitismus wird als ein Konzept definiert, das grenzüberschreitende Interaktionen, aber auch die daraus entstandenen Spannungen, Asymmetrien und Konflikte zu problematisieren versucht. Dessen heuristischer Wert kann nur dann effektiv sein, wenn er die Beziehungen sozialer Gruppen sowie nationaler oder kultureller Gemeinschaften zur Globalität und zur Weltentwicklung beschreiben kann.
Im Rahmen dieses Plädoyers für ein dezentriertes und operatives Gesamtkonzepts werden in den Beiträgen des Sammelbands mehrere Schwerpunkte betont, die zum Weiterdenken und Diskutieren in Hinblick auf das Forschungsgebiet der cosmopolitan studies anregen. Mit dem Oberbegriff der "Grenzziehung" wird deutlich gemacht, dass Kosmopolitismus als eine Kategorie genutzt werden kann, um komplexe Identitätsfindungsprozesse sowie neue Formen der Zugehörigkeit und der Solidarität angemessen zu beschreiben. In den Beiträgen (insbesondere bei Joachim Berger und Daniel Laqua), die sich mit Kosmopolitismus als Kompetenz und als Mobilisierungsfaktor befassen, wird auf überzeugende Weise gezeigt, "wie kosmopolitische Haltungen internationalistisch überformt wurden und wie diese Internationalismen neue Kommunikations- und Begegnungsräume öffneten" (29). Dies ermöglicht einen erneuerten Zugang zum Verständnis von transnationalem politischem Engagement. Weitere innovative, debattierwürdige Ansätze findet man in den Versuchen (Nora Lafi, Soumen Mukherjee), die Regulierung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie das Verständnis der politischen Teilnahme aus einer kosmopolitischen Perspektive zu deuten. Bemerkenswert ist zudem, dass auch religionsgeschichtliche Fragestellungen in dem Sammelband Beachtung finden. Insbesondere aus der Perspektive der cosmopolitan studies wäre es empfehlenswert, an diese Forschungen anzuknüpfen und relevante konzeptuelle Mittel zu finden, um das Zusammenleben zwischen Mitgliedern verschiedener Konfessionen von einem kosmopolitischen Standpunkt aus zu untersuchen.
Der vorliegende Band stellt zweifelsohne eine beachtliche Bereicherung der Diskussion über den heuristischen Wert von Kosmopolitismen. Die Beiträge, auch die Fallstudien, zeugen von einer produktiven Aufarbeitung des kosmopolitischen Konzepts, befassen sich mit dem aktuellen Stand der internationalen Forschung und bilden einen relevanten Ausgangspunkt für weitere Überlegungen über die Anwendungsmöglichkeiten des Kosmopolitismus.
Allerdings könnten einige im Band vertretenen Grundsatzüberzeugungen in der Rezeption des Kosmopolitismus hinterfragt werden. Dies gilt besonders für die Rezeption einer Tradition des Kosmopolitismus, die der europäischen Aufklärung entstammt und die mehrmals im Sammelband als nicht anknüpfungswürdig dargestellt wird. Sicherlich wäre es angebracht, eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem kosmopolitischen Erbe der Aufklärung zur Kenntnis zu nehmen und nicht nur dessen stigmatisierende Normativität in den Mittelpunkt der Analysen zu stellen. Die sozialhistorischen und ideengeschichtlich-kritischen Studien, die sich in den letzten Jahren mit der Entstehung und Entwicklung des Kosmopolitismuskonzepts seit der Aufklärung befasst haben (Albrecht 2005 ; Jacob 2006 ; Kleingeld 2011 ; Coignard 2017), konnten bereits die Aporien des weltbürgerlichen Anspruchs aufarbeiten, zeigten aber auch gleichzeitig, dass der kritische Umgang mit Eurozentrismus, imperialistischer Herrschaftspraxis und universalistischen Ansprüchen bereits im reflexiven Prozess des Aufklärungszeitalters beinhaltet war. Ein nuancierter Rückgriff auf das Erbe der Aufklärung ermöglicht es insbesondere, das Emanzipationspotenzial des Kosmopolitismus zu verdeutlichen und die im Sammelband gegebenen Definitionen von Kosmopolitismus um diese ergänzende, für die Moderne und die zeitgenössische Epoche äußerst relevante Kategorie zu erweitern.
Anmerkung:
[1] Ulrich Beck: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt am Main 2004, S. 48.
Tristan Coignard