Heiner Lück et al. (Hgg.): Das ernestinische Wittenberg: Spuren Cranachs in Schloss und Stadt (= Wittenberg-Forschungen; Bd. 3), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2015, 460 S., ISBN 978-3-7319-0195-2, EUR 39,95
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Mit dem Satz: "Endlich! Endlich eine quellenbasierte Studie zu Architektur und Kunst, [...]", beginnt das Geleitwort von Andreas Tacke zum dritten Band der im Auftrag der Stiftung LEUCOREA herausgegebenen Wittenberg-Forschungen mit dem Arbeitstitel "Das ernestinische Wittenberg: Spuren in Schloss und Stadt".
Nach dem Studium des 460 Seiten umfassenden Kompendiums aus acht ausführlichen fachübergreifenden Aufsätzen muss dem Vorsitzenden des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung uneingeschränkt Recht gegeben werden. Wenn der in Historikerkreisen vielzitierte Ruf "ad fontes" in den meisten Fällen im immensen Arbeitspensum des Quellenstudiums verhallt, so zeigt gerade dieser Band, wie segensreich eine solche Arbeit für die moderne Forschung sein kann. Maßgeblichen Anteil daran haben Anke Neugebauer und Thomas Lang (11), die zum Auftakt anhand transkribierter Schriftquellen wie z.B. Schlossküchenrechnungen (22f.) Fakten zum Wirken des kurfürstlichen Hofmalers Lucas Cranach d.Ä. zusammengestellt haben und damit wichtige Impulse für eine neue Sicht auf tradierte Forschungsmeinungen geben. Erstmals wird dabei die genaue Lage der Malerwerkstatt im Schloss lokalisiert (53) sowie Leben und Arbeiten Cranachs am Hof bis 1512 nachgewiesen.
Nach der umfassenden Übersicht über den Wirkungskreis des künstlerischen Protagonisten Cranach fokussiert sich Thomas Langs hierauf folgender Aufsatz (93) auf das Medium des Holzschnitts und stellt die Frage, ob der mehrfach schriftlich nachgewiesene "Simprecht Formschneider der Meister der Cranach'schen Holzschnitte" sein könnte. Insgesamt erweist sich dieser Themenbereich als Desiderat, dessen spürbare Ambivalenz zur Diskussion einlädt. Es verbleibt die spannende Frage, wie die Arbeitsteilung zwischen Entwerfer und ausführenden Formschneider- und Druck-Handwerkern organisiert war, bzw. wo die Schnittstellen liegen könnten. Aufschlussreich sind die gut reproduzierten Farbabbildungen aus dem 1568 erschienenen Ständebuch (94), in denen der "Reißer" mit den Gesichtszügen Cranachs des Jüngeren (?) den Entwurf auf Papier (nicht auf den Holzstock) "reißt". Auch in diesem Textteil kann der Leser von einer außerordentlich kenntnisreichen Verknüpfung der Informationsquellen profitieren.
Ein von denselben Autoren Neugebauer und Lang kommentierter Quellenanhang (139), deren Gattungen zur Einleitung ausführlich beschrieben werden, bietet nicht nur einen chronologischen Überblick, sondern zeigt die transkribierten Quellentexte zusätzlich im originalen Wortlaut. Kurze inhaltliche Zusammenfassungen und Textauslegungen setzen sich zudem mit den problematischen Fehlinterpretationen und Lesefehlern innerhalb älterer und neuerer Publikationen auseinander. Daraus ergibt sich die Chance, dass die aufgezeigten Fehler zumindest in Forschungsdatenbanken vorrangig korrigiert werden könnten, um einer Verfestigung innerhalb der Printmedien entgegenzuwirken.
Anhand einer bemalten Holzbalkendecke im Schloss Pretzsch stellt Mario Titze (295) exemplarisch das von der Cranachwerkstatt angebotene Leistungsspektrum vor. Ob allerdings die mit Pflanzenornamenten schablonenhaft ausgestalteten Kassetten als originäre Werke der Cranachwerkstatt gelten dürfen, muss dahingestellt bleiben. Die Zuschreibung bezieht sich allein auf stilkritische Vergleiche mit Werken aus der Cranachwerkstatt, die der Text jedoch schuldig bleibt. Die als wichtigste Vergleichsfiguren angeführten Kinderengel werden nicht gezeigt und die als "skizzenhaft frei, absolut sicher gezeichnet und unmittelbar empfunden" beschriebenen männlichen Köpfe (297) zeigen ebenso wenig zeichenphänomenologisch relevante Cranach-Typik wie die übrigen figürlichen Darstellungen. Deren Qualität lässt sich insgesamt eher als Ausführungsqualität eines im freien Zeichnen nicht explizit ausgebildeten Tünchers oder Holz-Handwerkers definieren als die eines routinierten Mitarbeiters einer Hofmalerwerkstatt. Nichtsdestotrotz zeigt der einzigartige Fund ein mögliches Aufgabenfeld Cranachs, das durch Quellen belegt ist. Dem Ausflug in die Innenraumgestaltung gebührt deshalb zu Recht ein Platz innerhalb der "Wittenberg-Forschungen". Die kulturhistorische Bedeutung der freigelegten Decken ist indes nicht davon abhängig, ob diese von Cranachs Mitarbeitern bemalt wurden oder von einem örtlichen Handwerker.
Alexander Krünes zeichnet anhand von archivalischen Quellen die Auftragsabwicklung für den so genannten Neustädter Altar nach (301) und gibt ein weiteres Beispiel für die Wichtigkeit einer umfassenden Erforschung der heute noch vorhandenen Archivalien. Er rekonstruiert den Rechnungszeitraum und definiert die Auftraggeber (301), stellt die Haupt- und Zusatzkosten (305f.) zusammen und beleuchtet die Umstände der Altaraufstellung (307). Interessanterweise kommt er zu dem Schluss, dass die vorgefundene Auftragsabwicklung und Finanzierung sich von heutigen Geschäftsmodellen so gut wie nicht unterscheidet.
Auf Basis von historischen Stadtkarten, Steuerlisten und Schoßbüchern geht Insa Christiane Hennen (313) der nicht neuen Frage nach, welchen Immobilienbesitz die Familie Cranach in Wittenberg bis zur dritten Generation (327) aufbauen konnte. Erstmals werden zu diesem Thema eindeutige, quellenbasierte Ergebnisse präsentiert. Dabei lässt die Autorin nicht nur ein lebendiges Bild der Stadt entstehen, sondern beschreibt auch die familiären und geschäftlichen Verflechtungen der Cranach-Dynastie innerhalb ihres Lebensumfelds. Für die Cranachforschung ergeben sich aus dieser Arbeit, die durch eine chronologische Tabelle der im Text beschriebenen Wittenberger Hausbesitzer ergänzt wird (342-361), wichtige Anhaltspunkte für eine Künstlersozialgeschichte der Wittenberger Malerwerkstatt.
Ralf Klutting-Altmann (363) holt Cranach "aus dem Boden", indem er im Rahmen geplanter Bautätigkeit zufällig entdeckte Bodenfunde beschreibt, darstellt und auswertet. Auch wenn er auf die eingeschränkte Aussagefähigkeit der einzelnen Fundstücke hinweisen muss (398), die nur in Einzelfällen das Ergebnis systematische Erschließung der untersuchten Parzellen sind, so ist doch ein wichtiger Schritt hin zu einer Erweiterung aussagefähigen Quellenmaterials getan. Besonders erfreulich ist der Hinweis auf eine erfolgte interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Abgleich der Ergebnisse aus Quellenstudium und archäologischer Grabungstätigkeit.
Mit einem weiteren Beitrag beteiligt sich Insa Christiane Hennen (401) an der Diskussion um die Ausstattung der Stadtpfarrkirche als zentraler "Memorial- und Repräsentationsort" (403), in dessen Mittelpunkt ab Mitte der 1540er-Jahre der Altarretabel aus der Cranach-Werkstatt geplant war. Die Vorgehensweise, aufgrund der für den Auftragszeitraum lückenhaften Quellen "das komplexe Werk selbst zu befragen" (408), verschiebt den Schwerpunkt der Auswertung jedoch von einer eindeutigen Beweisführung in Richtung Interpretation. Bei der Vielzahl von zitierten Nachweisen hätte es eines solchen Ausweichmanövers eventuell nicht bedurft, auch wenn dieser Schritt durchaus nachvollziehbar ist. Schließlich besteht hierbei immer die Gefahr, bereits zur Tatsache modulierte Spekulationen als Grundlage weitergehender Interpretation zu verwenden. Im Fall des hier interpretierten Hauptaltars der Wittenberger Stadtkirche ist es z.B. die nicht mehr hinterfragte Annahme, am Abendmahlstisch der Mitteltafel sei Luther in Gestalt des Junkers Jörg dargestellt (408), was weder inhaltlich Sinn machen würde noch einem Vergleich durch forensische Gesichtserkennung standhalten kann.
Ein Verzeichnis der ungedruckten Quellen (439) mit Aufbewahrungsorten sowie ein umfangreiches Personen- (443) und Ortsregister (453) sind einem Literatur- und Quellenverzeichnis (425) angehängt, was den Wert der Publikation weiter erhöht.
Insgesamt ist der Band ein wichtiges und hilfreiches Arbeitsmittel, das aufgrund seiner Konzeption Vorbildfunktion übernimmt.
Michael Hofbauer