Knud Andresen: Gebremste Radikalisierung. Die IG Metall und ihre Jugend 1968 bis in die 1980er Jahre (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; Bd. 56), Göttingen: Wallstein 2016, 640 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1918-9, EUR 46,00
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Mit dieser Monographie, die auf seiner an der Universität Hamburg angenommenen Habilitationsschrift beruht, führt Knud Andresen ein Thema zu neuer Aufmerksamkeit, das seine Blütezeit lange hinter sich gelassen zu haben scheint: die Gewerkschaftsgeschichte. Denn auch wenn Kim Christan Priemel bereits 2014 forderte, dass es entgegen dem Trend wieder mehr Organisationsgeschichte geben müsse [1], haben wir es hier gewissermaßen mit einer Pionierstudie zu tun. Der Autor verbindet nämlich die IG Metall-Jugend als zentralen Untersuchungsgegenstand mit aktuellen Fragen der Zeitgeschichte, so dass sein Buch weit über die Erklärungskraft traditioneller Organisationsgeschichten hinausgeht.
So untersucht Andresen die Erosion sozialer Milieus zwischen den 1960er und 1980er Jahren am Beispiel der Arbeiterklasse. Dabei möchte er Erkenntnisse über die sozialgeschichtliche Transformation der Arbeiterschaft gewinnen, indem er dieser mittelbar über den Wandel der politischen Repräsentation in den Gewerkschaften nachgeht. Andresen geht es dabei um den "Begriff [Arbeiterklasse] und darum gruppierte Deutungen und Wahrnehmungen" als "diskursive Referenz mit performativer Wirkung" (18). Die Konjunkturen dieses Begriffs im Untersuchungszeitraum hingen eng mit dem linken Aufbruch nach "1968" zusammen, der die Gewerkschaftsjugend bis Mitte der 1980er Jahre prägte und so zu einem wichtigen Gegenstand der Arbeit wird.
Mit beidem eng verbunden sind die Theoreme der Individualisierung und des Wertewandels, die Andresen als heuristische Ansatzpunkte dienen. Um deren Bedeutung für die Entwicklung der Arbeiterklasse nachzuspüren, nimmt er drei Bereiche in den Blick: die industrielle Berufsausbildung, Aushandlungsprozesse in der IG Metall und außerbetriebliche soziale Praktiken, womit insbesondere Verbindungen zwischen Gewerkschaftsjugend und Jugendkulturen oder sozialen Bewegungen gemeint sind. Diese stellt er in drei Hauptkapiteln dar, die unterschiedliche Phasen in der Entwicklung der Gewerkschaftsjugend betrachten: 1968-1972, 1973-1979 und 1979-1984. Die Verbindung der drei Ebenen verspricht eine sozialgeschichtlich grundierte Kultur- und Praxisgeschichte der IG Metall als Organisation: "Dabei geht es nicht um eine Organisationsgeschichte im Sinne ihrer Beschlüsse und politischen Statements, sondern um die Analyse diskursiver Muster und sozialer Praktiken." (25)
Die Untersuchung seines Gegenstands im Dreieck von Veränderung der industriellen Berufsausbildung, intraorganisationaler Aushandlungen und der Vermischung von Gewerkschaftsjugend und sozialen Bewegungen leuchtet insbesondere für die "Politisierungsphase" (39) zwischen 1968 und 1972 ein. Die Lehrlingsbewegung verband alle diese Bereiche miteinander und prägte die Gewerkschaften für den Rest des Untersuchungszeitraums. Der Autor arbeitet hier heraus, wie die Arbeiterklasse als politisches Objekt und identitätsstiftende, kollektive Kategorie neue Bedeutung erlangte und sich zugleich in der politischen Kultur der Gewerkschaftsjugend Tendenzen der Individualisierung entwickelten. Diese zeigten sich in den Versuchen selbstbestimmter Jugendarbeit, die wiederum eng verknüpft waren mit einer Neubewertung von Demokratie, wodurch die Gewerkschaften selbst mit einem gewandelten Verständnis eines ihrer zentralen Werte konfrontiert waren. So wurde die Lehrlingsbewegung von vielen Gewerkschaftsfunktionären gleichzeitig als Auseinandersetzung mit der DKP-nahen Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) um die richtige Vertretung der Arbeiterklasse und als Konflikt in der Arbeiterschaft und den Gewerkschaften um generationell geprägte, habituelle Divergenzen interpretiert. Diese "Konflikte in der Klasse" (267) um das äußerliche Erscheinungsbild der Jugendlichen, das Rauchen im Betrieb und autoritäres Verhalten von älteren Kollegen führten zu "Entselbstverständlichungen sozialer Anpassungen im betrieblichen Umfeld" (302) und trugen so die Auseinandersetzungen um Werte und Normen auch in die IG Metall.
In den folgenden beiden Phasen, der "zumindest scheinbaren politischen Resignationsphase" von 1973 bis 1979 und dem "erneuten jugendlichen Politisierungsaufschwung" zwischen 1979 und 1984 (39) blieben die Überschneidungen der drei großen Untersuchungsstränge geringer. Denn schon gegen Ende der "Politisierungsphase" durchlief die gewerkschaftliche Jugendarbeit einen Prozess der "Verrechtlichung" (218). So ergaben sich bei der gewerkschaftlichen Lobbyarbeit zum Berufsbildungsgesetz, dem Betriebsverfassungsgesetz und den Jugendarbeitsschutz für die linke politisierte Jugendkultur weniger Anknüpfungspunkte als noch bei der Lehrlingsbewegung.
Dies führt Andresen neben der Verrechtlichung der gewerkschaftlichen Jugendarbeit darauf zurück, dass sich im entstehenden alternativen Milieu das Verständnis von Politik weiter ausdifferenzierte und dabei eher auf eine lebensweltliche Veränderung zielte als auf die Lösung betrieblicher Konflikte. Unter dem wachsenden Einfluss des alternativen Milieus verlor auch die Arbeiterklasse als identitätsstiftende Kategorie an Bedeutung. Dementsprechend lässt sich die Spur von Individualisierung und Wertewandel unter jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in dieser Phase vor allem dort aufnehmen, wo Andresen die Verbindungen zwischen Gewerkschaftsjugend und Neuen sozialen Bewegungen untersucht.
Insbesondere die Auseinandersetzungen um Rüstung und Frieden, die die Gewerkschaftsjugend allerdings schon vor der Entstehung Neuer sozialer Bewegungen geprägt hatten, mobilisierten jugendliche Gewerkschaftsmitglieder in den 1980er Jahren stärker als beispielsweise die Forderung nach einer Umlagefinanzierung für Ausbildungsplätze. Dass auch "in der alltäglichen Arbeit junger Gewerkschafter Stilmittel und Habitus der Neuen sozialen Bewegungen Einzug hielten" (507), kann Andresen am "Wandel im Sprachduktus" (510) und der Gestaltung von Veröffentlichungen der Gewerkschaftsjugend zeigen, wo sich beispielsweise aus Alternativzeitungen bekannte Stilmittel wiederfinden.
Andresens Studie basiert auf gründlicher Quellenarbeit, die zahlreiche interessante Details zu Tage fördert und auch gemeinhin übersehene Akteure zu Wort kommen lässt. Wenn beispielsweise Mitglieder des Ortsjugendausschusses Minden über divergenten Musikgeschmack ihrer Zielgruppe und - daraus resultierend - große Mengen übrig gebliebenen Nudelsalats klagen (385), illustriert das sehr anschaulich, an welchen alltäglichen sozialen Praktiken und habituellen Inkompatibilitäten die Wiederannäherung von Gewerkschaftsjugend und Jugendkultur scheitern konnte.
Wo derartige Details an die Geschichte der Jugendarbeit der IG Metall und an die Leifragen der Untersuchung nach der Ausgestaltung von Wertewandel und Individualisierung rückgebunden werden, erschließt sich eindrücklich der Mehrwert dieser Form gewerkschaftlicher Organisationsgeschichte. So wird deutlich, dass Großorganisationen einen lohnenden Untersuchungsgegenstand darstellen, sofern diese mit neuen Forschungsfragen untersucht werden. Zugleich bedeutet der Detailreichtum auch eine Schwäche des Buches. Denn an mehreren Stellen kann man sich in der Fülle der Informationen verlieren, und der tiefere Sinn mancher Episode erschließt sich nicht immer auf den ersten Blick.
Die wenigen inhaltlichen Leerstellen des Buches sind aufgrund der Fülle an behandelten Themen zu verschmerzen. Aber da das neue Umweltbewusstsein und die Neubewertung der Geschlechterverhältnisse als zentrale Indikatoren des Wertewandels gelten, wären genauere Überlegungen zum (Nicht-)Verhältnis von IG Metall-Jugend und Umwelt- beziehungsweise Frauenbewegung sinnvoll gewesen. Auf analytischer Ebene hätte es der Arbeit zudem gutgetan, wenn Andresen seinen (oft verwendeten) Begriff von sozialer Praktik expliziert und in die Debatten um die Historische Praxeologie eingebettet hätte.
Diesen Anmerkungen zum Trotz hat der Autor ein lesenswertes Buch vorgelegt, das nicht nur die Zeitgeschichte der Gewerkschaften ein gutes Stück voranbringt. Es unterstreicht zugleich, inwiefern deren Entwicklung mit der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik auf vielen Ebenen verbunden ist. So macht der Fokus auf die Gewerkschaftsjugend durch die Untersuchung habitueller Konflikte deutlich, dass Gewerkschaften als intermediäre Akteure nicht nur zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern vermittelten, sondern auch in alltäglichen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Alterskohorten ihrer Mitgliedschaft. Daraus folgt letztlich eine einschlägige Bedeutung der Gewerkschaften bei der Aushandlung der sozialen Wandlungsprozesse der 1970er und 1980er Jahre, insbesondere in von Arbeitnehmern geprägten Milieus. Es sollten also nicht nur gewerkschaftshistorisch Interessierte dieses Buch zur Hand nehmen, sondern alle, die sich mit "1968" und seinen Folgen, der Geschichte der Linken, des alternativen Milieus, des Wertewandels, der Jugend und der Generationengeschichte sowie der Entwicklung von Großorganisationen beschäftigen.
Anmerkung:
[1] Kim Christian Priemel: Heaps of work. The ways of labour history, in: H-Soz-Kult, 23.01.2014, www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1223.
Ulf Teichmann