Stig Förster (Hg.): Vor dem Sprung ins Dunkle. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1880-1914 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 92), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 406 S., ISBN 978-3-506-78266-3, EUR 54,00
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Vorstellungen vom Krieg vor 1914 sind ein seit langem beliebtes Feld der Forschung - und das aus sehr gutem Grund: niemals zuvor ist wohl die Diskrepanz zwischen Kriegserwartung und Wirklichkeit so groß gewesen wie vor 1914. Niemand unter den Verantwortlichen stellte sich noch 1914 einen Luft- und Panzerkrieg so vor, wie er 1918 verwirklicht wurde. Niemand? Tatsächlich hat es bislang an Studien gefehlt, die sich systematisch mit den Ansichten der Fachleute beschäftigten. Die militärischen Fachzeitschriften der Jahre vor 1914 waren für die Forschung weitgehend unbekanntes Terrain.
Die vorliegende Publikation hat diesen Zustand enorm verbessert. Hervorgegangen aus einem von Stig Förster (Bern) geleiteten Projekt, vereint dieser Band drei Studien, nämlich die Analyse der deutschen (Markus Pöhlmann), französischen (Adrian Wettstein) und britischen Fachzeitschriften (Andreas Rose). Jeder dieser Beiträge ist in Wirklichkeit eine eigenständige Monografie, von jeweils weit mehr als 100 Seiten Umfang. Hinzu kommt eine substantielle Einführung des Herausgebers, der ja dieses Thema seit Jahrzehnten verfolgt.
Markus Pöhlmann beginnt in seinem Beitrag über das Deutsche Reich mit einer Art soziologischer Analyse der Militärschriftsteller, in den allermeisten Fällen aktive oder pensionierte höhere Offiziere, und liefert zudem eine Kurzcharakteristik der großen Anzahl von Fachzeitschriften. Im Fokus des Interesses der Militärschriftsteller lagen, wie Pöhlmann pointiert sagt, "Psychologie und Ballistik" (44) - und dazu immer wieder die Probleme der Dauer der aktiven Dienstzeit im Heer.
Es gab eine Art permanenten Dialog zwischen den militärischen Fachleuten und den Autoren des allgemeinen (damals ja an militärischen Dingen stark interessierten) Publikums. Signifikant ist die umfängliche Auseinandersetzung mit dem sechsbändigen Werk des russischen Bankiers Johann von Bloch über den Krieg der Zukunft. Pöhlmann zeigt, dass die Militärs überhaupt kein Interesse an der von Bloch thematisierten Finanzierung eines großen Krieges und der Kriegswirtschaft im verlängerten Ausnahmezustand hatten.
Es ist zu oft behauptet worden, dass die Militärs vor 1914 die Vernichtungskapazität der modernen Geschütze unterschätzt hätten. Pöhlmann weist nach, dass man dies sehr viel differenzierter sehen muss: Schon Anfang der 1890er Jahre war die Frage virulent, wie man angesichts der Vernichtungsfeuer der modernen Geschütze wieder zu offensiver Aktion kommen könne. Die Experten wussten, dass die Feuerdichte eine lockere Aufstellung der Schützen zur Folge haben musste. Wie aber sollte man die Kohäsion der Truppe aufrechterhalten, die "Moral", wenn die Soldaten nicht mehr im "Schulterschluss" standen (58 ff.)?
Wenn also die Spezialisten durchaus wussten, was moderne Artillerie mit der Infanterie der Gegenseite anrichten konnte, so gelangte dieses Wissen keineswegs auch an die Truppenführung und das Publikum. Hier herrschten noch 1914 Vorstellungen vom frisch, fromm, fröhlichen Dreinschlagen, die nichts mehr zu tun hatten mit der Realität.
Adrian Wettstein beginnt seine Untersuchung der französischen Fachzeitschriften mit einer recht ausführlichen Darstellung der historischen Auseinandersetzung in Frankreich um die "Nation in Waffen". Anders als in Deutschland stand im Zentrum der militärtechnischen Zeitschriften das Problem der Massenarmee in ihrem Verhältnis zu den "Staatsbürgern in Uniform". Wettstein geht auch ausführlich auf die Verwerfungen zwischen der militärischen Gesellschaft und der Republik ein, die nicht zuletzt durch die Dreyfus-Affäre in Bedrängnis kam. Wenn man heute oft die Meinung findet, dass die französischen Militärs besonders stark der Tradition verhaftet blieben und deshalb 1914 auch die Soldaten mit den traditionellen roten Hosen angreifen ließen, so zeigt diese Untersuchung, dass von Technikfeindlichkeit der französischen Militärs keine Rede sein kann (149). Stärker wohl als die Deutschen waren sie bereit, aus den Kriegen der Gegenwart zu lernen. Der russisch-japanische Krieg war für die Franzosen ein Laboratorium des künftigen Krieges. Interessant ist auch die offensichtliche Bereitschaft, vom technischen Wissen der anderen Nationen zu profitieren. Deutsche Fachzeitschriften und Buchpublikationen wurden in den französischen Offizierskreisen stark rezipiert. Allerdings hatte die Lernbereitschaft Grenzen: Man war so sehr von der Überlegenheit des Artilleriegeschützes M 1897 überzeugt, dass man die Fortschritte bei den Deutschen lange unterschätzte.
Sehr wichtig ist die Untersuchung der Vorstellungen vom Luftkrieg, der die innerfranzösische Diskussion der Vorkriegszeit beherrschte - zumal die französischen Flugzeuge damals technisch führend waren. Im Zentrum der Planung standen Beobachtung und Kurierdienste. Zwar wurden Flugzeuge als Bomben-Träger in Aussicht genommen, doch die Vorkriegsflugzeuge konnten die Last der schweren Bomben noch nicht tragen.
Über die Dauer des künftigen Krieges scheint es auch unter französischen Experten keine wirklich intensive Debatte gegeben zu haben. Deren Bild, so fasst Wettstein prägnant zusammen, war bestimmt davon, dass man weiterhin von einem Bewegungskrieg mit Entscheidungsschlacht auszugehen habe. In diesem Zusammenhang spielt auch das Problem des Verwebens von Reserve- und aktiven Formationen eine immer wieder diskutierte Rolle. Wie kann das Massenheer der "nation armée" die militärisch entscheidende Offensiv-Moral bewahren?
Wettstein dringt sehr tief in die Besonderheiten des französischen militärischen Denkens und Planes vor 1914 ein. Alle Zitate werden in französischer Sprache wiedergegeben - ein wenig mehr Sorgfalt bei der Rechtschreibung französischer Namen und Wörter hätte diesem sachlich vorzüglichen Beitrag gut angestanden.
Der Beitrag von Andreas Rose über Großbritannien geht zunächst noch einmal ausführlich auf die Bedeutung von Militärzeitschriften ein (da hätten sich die drei Autoren bzw. der Hg. wohl besser koordinieren können...). Dann zeigt er sehr plastisch die besondere Lage der Inselmacht mit ihren weltweiten imperialen Besitzungen. Die Ausweitung des russischen Eisenbahnnetzes bedrohte unmittelbar die britischen Interessen in Indien. Die britischen Militärexperten waren wenig anfällig für Aufregungen und Kriegsphobien der Öffentlichkeit. Sie waren - mehr als die deutschen und französischen Experten? - auf die modernen Kommunikationsmittel wie Telefon und Telegrafie fokussiert. Flugzeuge galten auch hier (und wohl mehr als in Deutschland) als das Kampfmittel der Zukunft. Dominant war natürlich die Marine, wo in den 1900er Jahren vor allem die neue Herausforderung durch die Torpedos diskutiert wurde. Die Fachleute wendeten sich gegen den von der internationalen Öffentlichkeit (und seitdem von vielen Historikern) betriebenen Tonnage-Fetischismus; der Two-power-Standard wurde für sie zu einem ehernen Gesetz der britischen Seemacht.
Ganz verschieden von den anderen europäischen Mächten war das Verhältnis zur allgemeinen Wehrpflicht und den Massenheeren. Deren Effizienz wurde zurückhaltend beurteilt, die allgemeine Wehrpflicht war in England schlicht nicht mehrheitsfähig. Die Expeditions-Armee von ca. 150.000 Mann wurde als "Projektil" der Navy angesehen (287). Und der Burenkrieg, als wichtigste Erfahrung des Landkrieges für das englische Heer, änderte nichts an der Dominanz der Offensivtheorie und der "Entscheidungsschlacht", die - auch hier wäre ein Vergleich mit Deutschland und Frankreich naheliegend - sehr stark darwinistisch motiviert blieb. Daran konnte auch die Beobachtung des russisch-japanischen Krieges nichts ändern, da man aus den neuen Formen des Grabenkrieges den Schluss zog, dass nur die Verstärkung der Offensivmoral und unbedingte Opferbereitschaft ein Versinken des Krieges im Schlamm verhindern könnten. Hervorragend sind die Ausführungen (325 ff.) über die Auseinandersetzung auch der britischen Experten mit der Arbeit von Johann von Bloch über den künftigen Krieg. Ganz allgemein wurde gefolgert, dass gerade die von Bloch analysierte Zerstörungskraft der modernen Geschütze langandauernde Kriege in Zukunft ausschlösse. Typisch war auch (wie in Frankreich und mehr als in Deutschland) die Schlussfolgerung, dass gegen die Massenverluste der Riesenarmeen und die Schauerlichkeiten des modernen Schlachtfeldes, wie man es im russisch-japanischen Krieg und in den Balkankriegen beobachten konnte, nur die Verbesserung der "moralischen Qualität" des Kombattanten helfen könne.
Insgesamt ist dieser Band ein wichtiger Beitrag zu einer genaueren Kenntnis der Vorstellungen vom Krieg vor 1914. Er wäre noch besser geworden, hätte man versucht, im Abschluss eine vergleichende Ergebnispräsentation zumindest zu skizzieren. So muss der Leser selber versuchen, die Ähnlichkeiten und charakteristischen Unterschiede zwischen dem militärischen Denken der drei Nationen herauszufinden. Ein vergleichendes Fazit wird in der Einführung des Herausgebers allenfalls angedeutet. Insgesamt ist dieses Buch ein Muss für jeden, der sich für die Vorstellungen vom Krieg vor 1914 interessiert, um den Ersten Weltkrieg zu verstehen.
Gerd Krumeich