Jürgen Stöhr: Die Sorge um die Theorie. Bildanschauungen und Blickoperationen mit Martin Heidegger und Michael Brötje, München: Wilhelm Fink 2016, 240 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7705-6024-0, EUR 29,90
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Das Buch ist in eine knappe Einleitung, einen ausführlichen Hauptteil und einen kurzen Anhang gegliedert. Die neun Unterkapitel des Hauptteils werden durch drei "Mittel der Darstellung" geprägt und strukturiert: "die Bauchrednerei, die fiktiven Szenen und die Unterbrechungen" (17). Bauchrednerei meint, dass Schriften anderer, nämlich ein "Text-Pool der deutschen Existential-Hermeneutik" (7), und dabei speziell jene des berühmten Philosophen Martin Heidegger und des wenig bekannten Kunstwissenschaftlers Michael Brötje, behandelt und damit zur Aufführung gebracht werden. Honoré de Balzacs Novelle Das unbekannte Meisterwerk dient als Vorbild der fiktiven Szenen, die "immer dann ein[setzen], wenn der kunstwissenschaftliche Diskurs ins Stocken gerät oder nicht mehr weiterweiß, oder aber wenn er durch die erzählte Geschichte erläutert werden kann" (13). Bei den Unterbrechungen handelt es sich um "seitlich und in abgesetzter Typografie gehaltene Textbausteine" in Form von erläuternden Originalzitaten (17). Nicht explizit genannt aber dennoch prägend für das ganze Buch sind ferner viele Abbildungen, die, meist ohne Beschriftung, auf unterschiedliche Weise in den Text eingebaut sind.
Dass viel Bedacht auf die Darstellungsmittel gelegt wird, ergibt sich aus dem Inhalt und dem Anliegen des Buchs selbst, denn: "dieses Buch [sucht] auch nach einem Niemandsland oder einem unerklärlichen Rest-'Sinn' der Kunstwerke und darüber hinaus nach einer Schreibweise, die dem näher zu kommen versucht" (15). Angestrebt ist eine "mitproduzierende, schreibende Lektüre" (15) ganz im Sinne eines "Ereignisdenken[s]" (9), sowohl in Hinsicht auf die Kunstwerke als auch in Hinsicht auf die Textklassiker. Ein derartiger Umgang mit einem Werk ist bestimmt durch eine "intuitiv-unmittelbare Werkbegegnung", die ein Gegenprogramm zur "erklärend-argumentativen Kunstgeschichte" darstellt (26). Dabei muss betont werden, dass Stöhr nicht blind einer solchen existential-hermeneutischen Haltung und Vorgehensweise folgt, sondern - wenngleich recht knapp - immer wieder auf die damit verbundenen Schwierigkeiten, beispielsweise in Form eines circulus vitiosus (etwa 28, 145), theologischer Implikationen (etwa 141, 192) oder übertriebener Selbstsicherheit (108), hinweist.
Das Ziel der gesamten Unternehmung ist ein Doppeltes: Zum einen "geht es um die Rekonstruktion von existential-hermeneutischen Theorietraditionen und Denkbewegungen in ihrer Eigenlogik", zum anderen wird sich davon gelöst, "um in den so 'entkleideten' Schwundformen dieser Konstruktionen systematischer nach deren Operationen und der Anschauungslogik zu fragen" (13). Dies geschieht im Hauptteil, indem nacheinander in jedem Kapitel jeweils ein (oder zwei) Werk(e), wie Raffaels Madonna della Sedia, Giottos Noli me tangere usw., intensiv behandelt werden. Und zwar in steter Engführung mit Brötje, Heidegger und anderen, entweder mittels Arbeiten, in denen sich diese direkt mit einem der Werke befasst haben, oder in der Form, dass ein Werk in deren Sinn bearbeitet wird. Im Anhang schließlich werden "mögliche Sehoperationen" (210), die im Laufe der Einzeluntersuchungen begegnet sind, in Form einer Liste zusammengetragen, das heißt ein abstraktes Syntheseangebot unterbreitet.
Die Frage nach dem Forschungskontext, in den das Buch einzuordnen ist, führt in mindestens drei verschiedene Richtungen. Erstens handelt es sich um eine explizite Auseinandersetzung mit und Weiterarbeit an der Tradition existential-hermeneutischer und angrenzender Arbeiten aus der Philosophie und Kunstwissenschaft, vor allem von Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer, Wilhelm Weischedel, Roland Barthes, Jacques Derrida, Max Imdahl, Georges Didi-Huberman, Gottfried Boehm und Michael Brötje. Damit setzt der Autor zweitens seine Arbeit an einem Thema fort, mit dem er sich bereits seit geraumer Zeit befasst. [1] Drittens ist auf das zunehmende Interesse an klassischen oder bislang wenig beachteten Arbeiten hinzuweisen, das seit einigen Jahren auch in der Kunstgeschichte zu beobachten ist; sei es in Form von Editionen oder der Fruchtbarmachung älterer Gedanken. [2]
Zu den Stärken des Buchs gehört, dass die recht unbekannten Arbeiten Michael Brötjes aufgearbeitet und somit ins breitere Bewusstsein des Fachs erhoben werden. Auch ist diese Aufarbeitung, wie gesagt, durchaus kritischer Natur, indem Schwächen der thematisierten Arbeiten benannt werden. Weiterhin langweilt die Lektüre nicht, da man stets mit neuen Gedanken, Wendungen und Einblicken konfrontiert wird. Am wichtigsten ist vielleicht der Umstand, dass hier eine Art der Kunstgeschichte - eben eine existential-hermeneutische - samt ihrer Implikationen in aller Deutlichkeit, quasi idealtypisch, auseinandergesetzt wird. Sonst begegnen im weiten Feld der kunstwissenschaftlichen Literatur oft Elemente einer solchen, ohne dass streng zu Ende gedacht wird, was dies bedeutet, sodass es zu undeutlichen und inkonsequenten Aussagen kommt.
Um die Arbeit an dieser spannenden Thematik weiter voranzubringen, seien einige Schwächen des Buchs sowie mögliche Verbesserungen benannt. Wie bei vielen kunstwissenschaftlichen Publikationen wird auch hier auf die präzise Angabe des Forschungsstands verzichtet, sodass nicht erkenn- und prüfbar wird, inwiefern ein wissenschaftlicher Fortschritt stattgefunden hat, was nicht zuletzt an der hermeneutischen Grundausrichtung liegen mag. Mit dieser gehen auch weitere Probleme einher, wie die Kunstfertigkeit oder Schönheit als Bewertungskriterien wissenschaftlicher Texte (62, 91). Daher und um der allgemeinen Klarheit Willen scheint es zweitens wichtig, auf Gegenpositionen zur Existential-Hermeneutik - etwa in Form des kritischen Rationalismus - in grundsätzlich philosophischer wie auch in konkret kunstwissenschaftlicher Ausformung aufmerksam zu machen. [3] Drittens erlauben es einige Abbildungen aufgrund ihrer Qualität nicht, das im Text Dargelegte zu erkennen (etwa 114, 122). Ebenso begegnen einige Tippfehler. Schließlich besteht viertens das Problem, dass man bei der Textlektüre nicht zugleich die Bilder sehen kann. Gerade eine solche Darstellungsform aber, wie sie sich bei mündlichen Vorträgen mit Bildern ergibt, gäbe das ganze Potential anschauungsorientierter Arbeiten zu erkennen. Praktisch gewendet ließe sich dies in Form von Lehrveranstaltungen mit Referaten nutzen, wozu sich auch die Anzahl von elf Teilkapiteln für entsprechend viele Sitzungen bestens eignet.
Insgesamt ist das Buch all jenen zu empfehlen, die vor einer anspruchsvollen und damit konzentrierten Lektüre und Blickarbeit nicht zurückschrecken. Denn auf diese Weise begegnet man einem reichen Fundus an Ideen, Anregungen und Herausforderungen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Jürgen Stöhr (Hg.): Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996.
[2] Vgl. stellvertretend für viele andere Editionen Edgar Wind: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, hgg. von John Michael Krois / Roberto Ohrt, Hamburg 2009 sowie als Beispiel der Fruchtbarmachung von Klassikern: Das Bild als Ereignis. Zur Lesbarkeit spätmittelalterlicher Kunst mit Hans-Georg Gadamer, hgg. von Dominic Delarue / Johann Schulz / Laura Sobez, Heidelberg 2012.
[3] Vgl. hierzu grundsätzlich Hans Albert: Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen 1994 sowie zu einem Versuch der kunsthistorischen Umsetzung Christian Nille: Wie man Aspekte der Gegenwartskunst dazu nutzen kann, um eine methodisch am kritischen Rationalismus orientierte Kunstgeschichte zu entwerfen, und warum eine solche sinnvoll ist, in: kunsttexte.de, Sektion Gegenwart Nr. 1, 2017, www.kunsttexte.de, http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2017-1/nille-christian-5/PDF/nille.pdf.
Christian Nille