Juliette Sibon: Chasser les juifs pour régner. Les expulsions par les rois de France au Moyen Âge, Paris: Editions Perrin 2016, 300 S., 5 Kt. , ISBN 978-2-262-03668-3, EUR 21,50
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Die mehrmaligen Vertreibungen der Juden durch die "allerchristlichsten" Könige von Frankreich im Mittelalter haben die Forschung schon häufig beschäftigt. Zahlreiche Beiträge liegen zu wichtigen Einzelaspekten der Thematik vor. [1] Angesichts dessen hat Juliette Sibon nun den Versuch einer Synthese der einschlägigen Arbeiten gewagt. Die Autorin ist bislang vor allem durch ihre Dissertation über die Juden im mittelalterlichen Marseille und ein kürzlich erschienenes Buch über die Juden unter der Herrschaft König Ludwigs IX. hervorgetreten. [2]
In chronologischer Reihenfolge behandelt sie zunächst die Ausweisung der Juden aus der relativ kleinen Krondomäne durch einen noch sehr jungen König Philipp II. im Jahr 1182 und die Rücknahme dieser Ordonnance nach 16 Jahren (23-59). Kapitel II kreist um die antijüdischen Maßnahmen Ludwigs des Heiligen, dessen energischer Kampf gegen den Wucher nicht nur jüdische Geldleiher, sondern auch Lombarden und Kawertschen fokussierte. Ludwig bedrohte die an Zinsleihe, "Magie" und Talmud festhaltenden Juden zwar auch mit Vertreibung, doch unterblieb diese "faute de moyens financiers et administratifs suffisants, à l'échelle de tout le royaume" (62).
Im Mittelpunkt von Kapitel III steht die Judenpolitik Philipps IV., der im Jahr 1306 eine im Prinzip auf ewig geltende Verbannung der Juden dekretierte (91-127). Bisherigen Erklärungen, wonach dieser Schritt fiskalisch motiviert gewesen sei, steht Sibon skeptisch gegenüber, da der Monarch zwar die Außenstände der Juden und ihre Immobilien für sich reklamierte, aber die Kosten der Realisierung seiner Ansprüche sehr hoch gewesen seien - vielmehr habe Philipp von seinem Vorgehen in erster Linie politisch profitiert (103, 114). Es fragt sich nur, ob die angesprochenen Unkosten denn von vornherein absehbar waren!
In Kapitel IV geht es um das Wechselspiel von temporärer Rückkehr, Verfolgungen und neuen Auswanderungen der Juden zwischen 1315 und 1328 (129-151). Obwohl nicht vom König verantwortet, wird am Ende dieses Abschnitts auch eine wenig bekannte Vertreibung der Juden aus dem Comtat Venaissin durch Papst Johannes XXII. 1322/23 berücksichtigt (147-150).
Den Weg von der Wiederzulassung der Juden auf Zeit durch den angesichts seiner Gefangenschaft durch die Engländer in höchster Not befindlichen König Johann II. im Jahr 1359 bis zur irreversiblen Beendigung dieser mehrfach verlängerten Neuaufnahme im Herbst 1394, als für den geisteskranken Karl VI. ein Regentschaftsrat amtierte, zeichnet Kapitel V nach. Von dieser Ausweisung waren einige Hundert Juden betroffen (179), die zuvor unter großzügigen rechtlichen Rahmenbedingungen gelebt hatten. Sibon wählte dafür sogar "heureux comme un juif de France" als Überschrift (159). Freilich gab es damals auch äußerst bedrohliche Jahre; insbesondere um 1380 kam es daher zu einer "migration plus forte [...] que vers 1395" - so jedenfalls Roger Kohn [3], während sich dies bei Sibon (178) viel harmloser liest.
Die verbliebenen Juden waren wohl kaum noch zahlungskräftig genug, um eine angemessene Summe für die Verlängerung ihres Bleiberechts zu bezahlen: "l'expulsion de 1394 comportait une dimension financière évidente", so die Autorin (177). Trotz allem begegnen etwa in Lyon Juden noch bis mindestens 1417 und vereinzelt sogar noch um 1460 in Paris (182).
Abschließend wird die Situation der Juden in der Dauphiné und der Provence im ausgehenden Mittelalter behandelt (183-205). Von einer offiziellen Vertreibung aus der Dauphiné erfahren wir nichts, im Gegensatz zur Provence. Nach einem noch weitgehend folgenlosen diesbezüglichen Dekret König Karls VIII. aus dem Jahr 1498 war unter seinem Nachfolger Ludwig XII. drei Jahre später das endgültige Ende der provenzalischen Judengemeinden gekommen, woraufhin sich bekanntlich viele Juden taufen ließen (201-203).
In ihrer "Conclusion" (207-213) bekräftigt Sibon ihre zentrale These, dass die Vertreibungen der Juden als Indikator fortschreitender Souveränität und Autorität des französischen Königs in seinem ausgedehnten Reich dienen können, in dem der Monarch auf diesem Sektor in die hergebrachten Rechte seiner Vasallen eingriff. Die Juden seien in diesem Prozess aber nie lediglich Objekte und Frankreich sei auch zu keinem Zeitpunkt völlig ohne jüdische Präsenz gewesen. Zu Recht betont Sibon, dass man trotz aller Informationen letztlich noch weit von einem "point finale à la compréhension des expulsions médiévales des juifs du royaume de France" entfernt sei (210).
Auf den Haupttext folgen insgesamt 457 Anmerkungen, eine Datenliste, ein Quellenanhang, eine Auswahl-Bibliographie sowie ein Personen-, Orts- und Sach-Register. In Index und Text wäre "Honoré Bovet" in "Honoré Bonet" und "Jonathan de Trèves" in "Yochanan de Trèves" zu korrigieren. "Pierre Valdès" (55) fehlt im Personenverzeichnis. Ohnehin sollte dessen nicht belegter Vorname nicht mehr verwendet werden. Was die Autorin zu Bray-sur-Seine ausführt (49 f.), dürfte eher Brie-Comte-Robert betreffen.
Ein expliziter Dialog mit der Forschung findet sich in Sibons Buch in der Regel nicht. Wenn die Autorin etwa zu bedenken gibt, dass der junge König Philipp II. unter dem Einfluss seiner Ratgeber darauf aus gewesen sein könnte, die Politik seines Vaters in ihr Gegenteil zu verkehren (23f.), so wurde dies bereits in einem Aufsatz von William Jordan diskutiert [4], der aber nirgends zitiert wird. Unerfindlich bleibt, warum andererseits ausgerechnet Heinrich Graetz angelastet wird, er habe von der öffentlichen Glaubensdisputation in Paris von 1269 nichts gewusst (222, Anm. 56).
Ganz am Ende des Haupttextes wendet sich die Verfasserin plötzlich gegen die Einschätzung Fernand Braudels, "[d]ie Hauptschuld" an den landesweiten Vertreibungen der Juden in Europa habe "die allgemeine Rezession in der abendländischen Welt" getragen. Das Zitat von Braudels Folge-Satz ("Dieser Punkt scheint völlig unstrittig.") [5] hat sich Frau Sibon dabei verkniffen. Eine Auseinandersetzung mit dem hier aufgeworfenen Problem bietet sie freilich nicht.
Eine weitere Kontroverse, die Frage nach der Zahl der Exilanten unter Philipp IV., wird in aller Kürze angesprochen. Plädierte William Jordan noch für eine Größenordnung von 100.000 bis 150.000 Juden in Frankreich unter besagtem Herrscher [6], so rechnet etwa Simon Schwarzfuchs neuerdings mit eher 45.000 Seelen oder etwas darüber. [7] Auch das ist aber weit entfernt von "höchstens" ("tout au plus") einigen Tausend Juden, von denen Sibon schreibt (121). Jacques Le Goff ging noch davon aus, so viele Juden hätten schon allein in Paris gewohnt! [8]
Nahezu substanzlos sind leider die wenigen Sätze, die im Abschnitt über die Migrationswege der im Jahr 1306 verbannten Juden die deutschen Lande betreffen (123). Dies ist ebenso enttäuschend wie die Unterbelichtung der Rolle des Wucher-Diskurses der Mendikanten in Frankreich und insbesondere am Hof Ludwigs des Heiligen. [9]
Insgesamt hat Juliette Sibon in erster Linie einen Essay über die Vertreibungen aus dem französischen Königreich vorlegen wollen, kein umfassendes Opus mit dem Anspruch eines künftigen Standardwerks, nach dem Muster etwa von Robin R. Mundills Buch über die Verbannung der Juden aus England. [10] Trotz der angesprochenen Kritikpunkte ist "Chasser les juifs pour régner" eine solide Informationsquelle, die als solche künftig sicherlich gerne genutzt werden wird.
Anmerkungen:
[1] Hier sei nur verwiesen auf die Bände: L'expulsion des Juifs de France 1394, hg. von Gilbert Dahan und Élie Nicolas, Paris 2004; Balasse, Céline: 1306. L'expulsion des juifs du royaume de France, Paris 2008; Philippe le Bel et les Juifs du royaume de France (1306), hg. von Danièle Iancu-Agou, Paris 2012.
[2] Juliette Sibon: Les Juifs de Marseille au XIVe siècle, Paris 2011; Dies.: Les Juifs au temps de Saint Louis, Paris 2016.
[3] Roger Kohn: Les Juifs de la France du Nord dans la seconde moitié du XIVe siècle, Louvain, Paris 1988, 264. Vgl. ebd., 34, auch einen Hinweis auf eine mögliche Vertreibungsverfügung vom 8. Februar 1368.
[4] William Chester Jordan: Princely Identity and the Jews in Medieval France, in: From Witness to Witchcraft. Jews and Judaism in Medieval Christian Thought, hg. von Jeremy Cohen, Wiesbaden 1996, 257-273.
[5] Fernand Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 2, Darmstadt 2001 (frz. Originalausgabe zuerst 1949), 633.
[6] William Chester Jordan: The French Monarchy and the Jews. From Philip Augustus to the Last Capetians, Philadelphia 1989, 202.
[7] Simon Schwarzfuchs: L'expulsion des Juifs de France en 1306: des réfugiés introuvables?, in: Philippe le Bel et les Juifs du royaume de France (1306) (wie Anm. 1), 208.
[8] Jacques Le Goff: Saint Louis, Paris 1996, 794. Gérard Nahon: Les juifs de Paris à la veille de l'expulsion de 1306, in: Finances, pouvoirs et mémoire. Mélanges offerts à Jean Favier, Paris 1999, 30, errechnete allerdings nicht mehr als rund tausend Jüdinnen und Juden im Paris der 1290er Jahre.
[9] Vgl. dazu Christoph Cluse: Zum Zusammenhang von Wuchervorwurf und Judenvertreibung im 13. Jahrhundert, in: Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit, hgg. von Friedhelm Burgard / Alfred Haverkamp / Gerd Mentgen, Hannover 1999, 135-163.
[10] Robin R. Mundill: England's Jewish Solution. Experiment and Expulsion, 1262-1290, Cambridge 1998.
Gerd Mentgen