Eduard Mühle: Breslau. Geschichte einer europäischen Metropole, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, 387 S., ISBN 978-3-412-50137-2, EUR 29,99
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die polnischen und deutschen Namen Wrocław und Breslau sind identisch, sie bezeichnen ein und dieselbe Stadt. Mit dieser Erläuterung der historischen Entwicklung des polnischen und deutschen Stadtnamens beginnt der Osteuropahistoriker Eduard Mühle seinen beachtenswerten Überblick zur wechselvollen Geschichte der Hauptstadt Schlesiens. Denn bezeichnend für die Geschichte Breslaus ist, dass die Stadt seit dem Mittelalter nicht nur mehrfach die staatliche Zugehörigkeit und die politische Ordnung wechselte, sondern nach dem Zweiten Weltkrieg auch einen ungleich tieferen Umbruch erlebte, als nahezu die gesamte Einwohnerschaft dieser deutschen Großstadt ausgetauscht wurde. Auch das nunmehr polnische Breslau definierte sich fortan in Bezugnahme und Abgrenzung zum Erbe der vergangenen Stadt. Der geografische Ort und prägende Bereiche der historischen Bausubstanz blieben bestehen, daher lässt sich diese Stadt unabhängig vom zeitlichen Bezugsrahmen in beiden Sprachen unter nur einem Namen fassen.
Breslau ist die Kulturhauptstadt Europas 2016. Dies ist sicherlich nur einer der Beweggründe des Verfassers, die komplexe Geschichte Breslaus strukturiert und übersichtlich neu zu ordnen und dabei einen Akzent auf die Entwicklung heute noch wirkmächtiger Baudenkmäler zu legen. Denn aus dem komplexen Geflecht des örtlichen Kulturerbes schöpft die schlesische Hauptstadt seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus eine neue Kraft, die lange Zeit von Deutschen und Polen aufgerechnete Geschichte in ihrer Gesamtheit anzunehmen.
Das vorliegende Buch entfaltet diese Geschichte Breslaus in zehn Kapiteln. Hierbei geht der Verfasser nicht bloß chronologisch vor, sondern stellt jedem Epochenüberblick ein charakteristisches Bauwerk voran und schließt es mit dem Wirkungsfeld einer Persönlichkeit ab. Unter breiter Bezugnahme auf den polnischen und deutschen Forschungsstand zeigt Mühle die Anfänge der slawischen Burg auf der Oderinsel und die Entwicklung der frühmittelalterlichen Stadt mit ihren verschiedenen Siedlungszentren. Er verbleibt nicht bei der politischen Konstellation der schlesischen Herzogtümer, sondern legt hier und in jedem weiteren Kapitel auch einen Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt. Am ökonomischen Aufschwung und Niedergang macht der Verfasser den zentralen Faktor der Stadtentwicklung fest. Für die Siedlung an der Kreuzung zweier Handelsrouten erwies sich der Landesausbau der polnisch-piastischen Herzöge als der größte Wachstumsfaktor. Im Mittelpunkt des Kapitels zu Breslaus Hochzeit als aufstrebende Handelsmetropole zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert stehen das spätgotische Rathaus sowie der Breslauer Patrizier Kaspar Popplau, der sich in dem für die Stadt so bedeutungsvollen Handel mit Polen engagierte. Porträtiert werden allerdings keineswegs nur Eliten, auch am Wirkungsfeld einer Handwerkerwitwe im frühen 18. Jahrhundert verdeutlicht der Verfasser die sozioökonomische Entwicklung Breslaus.
Stärker als die wechselnden Herrschaftsepochen unter den Dynastien der Piasten, Luxemburger, Jagiellonen, Habsburger und schließlich der Hohenzollern hatte die Reformation nachhaltige Auswirkungen für Breslau, da fortan die mehrheitlich protestantische Stadt mit einer bedeutenden katholischen Gemeinde konfessionellen Zwängen und Begünstigungen unter böhmisch-österreichischer und seit 1741 unter preußischer Herrschaft ausgesetzt war. Die Annektierung Schlesiens durch Preußen hatte auch für das Breslauer Gewerbe einschneidende Konsequenzen, von dessen Druck sich die Stadt erst im großen Aufschwung des 19. Jahrhunderts erholte, als Breslau die drittgrößte Stadt Deutschlands war. Als "regionales Zentrum der Moderne" bezeichnet Mühle den Zeitraum 1870-1930, der das Stadtbild bis heute so nachhaltig prägt und zugleich den folgenschweren Sturz von einem pulsierenden Wirtschaftszentrum zu einer besonders rückständigen Großstadt markiert. Auf die modernistische Jahrhunderthalle folgt in der Darstellung das neoklassizistische Präsidium der nationalsozialistischen Provinzialregierung, und auf das Porträt eines jüdischen Stadtverordneten lässt Mühle das eines deutschnationalen Universitätsprofessors, Hermann Aubins, folgen, zu dessen Leben und Wirkungsfeld in der antislawischen Ostforschung er eine hervorragende Studie vorgelegt hat. [1] Ergänzen ließe sich noch Breslaus bedeutende Rolle beim Ausbruch der Befreiungskriege gegen die französische Besatzung 1813 - die königlichen Aufrufe und die Stiftung des Ordens "Eisernes Kreuz" markierten bis 1945 den zentralen Moment der lokalen Geschichtskultur. Dieses Ereignis erwähnt der Verfasser erst in Bezug auf eine historische Großausstellung zum einhundertsten Jahrestag 1913, deren Besucherzahl er irrtümlich mit rund 100 000 veranschlagt, dabei sahen die Ausstellung über 4,6 Millionen Gäste.
Den Aufstieg und Fall, die Zerstörung und den Wiederaufbau Breslaus im turbulenten 20. Jahrhundert bettet Mühle kenntnisreich in den sozioökonomischen Kontext der Stadt ein. Logisch strukturiert, wissenschaftlich fundiert und in einer zuweilen sehr nüchternen Sprache entfaltet er die Breslauer Stadtgeschichte über die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und die spannungsvolle Nachkriegszeit bis hin zur Gegenwart. Differenziert analysiert Mühle die schwierigen Anfänge der polnischen Stadt, die politischen Konflikte in der Volksrepublik Polen und die begrenzten kulturellen Freiräume. Als Protagonisten für diese Zeit wählt er den international erfolgreichen Pantomimekünstler Henryk Tomaszewski, der mit seiner deutsch-polnischen Biografie sinnbildlich für das Breslauer Kulturerbe steht. Der Schritt zur Gegenwart kann in einem geschichtswissenschaftlichen Werk nur kurz ausfallen, Breslaus vergleichsweise großer wirtschaftlicher Erfolg und die Errichtung des monumentalen Hochhauses "Sky Tower" (2012) bedürften einer späteren Bewertung. Zur Phase seit 1989 fehlt ein biografisches Porträt, zu dem sich vermutlich der erste demokratisch gewählte Stadtpräsident Bogdan Zdrojewski bestens geeignet hätte, da er Breslaus Öffnung zur komplexen Vergangenheit, den wirtschaftlichen Aufschwung und die Bewältigung der Flutkatastrophe von 1997 maßgeblich geprägt hat.
Diese lesenswerte Stadtgeschichte ist nicht bloß ein weiterer, bebilderter Überblick zu Breslaus Geschichte, sondern eine kompakte, auf einem umfangreichen Fußnotenapparat basierende Studie. Vergleichbaren stadtgeschichtlichen Synthesen fehlt es zumeist an jener Wissenschaftlichkeit oder, wie im Fall des viel diskutierten Werkes von Norman Davies, einer Gewichtung der Fakten in einem Gesamtzusammenhang. [2] Wem das bisher einschlägige dreibändige polnische Werk Historia Wrocławia [3] zu unhandlich ist, dem sei der hier besprochene Überblick empfohlen, der inzwischen auch in polnischer Übersetzung [4] der Einwohnerschaft der behandelten Stadt zugänglich ist.
Anmerkungen:
[1] Eduard Mühle: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005.
[2] Norman Davies / Roger Moorhouse: Microcosm. Portrait of a Central European City, London 2002.
[3] Cezary Buśko / Teresa Kulak / Włodzimierz Suleja: Historia Wrocławia, tom I-III [Geschichte Breslaus, Band 1-3], Wrocław 2001.
[4] Eduard Mühle: Historia Wrocławia, Warszawa 2016.
Vasco Kretschmann