Klaus Schriewer: Natur und Bewusstsein. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Waldes in Deutschland, Münster: Waxmann 2015, 220 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-8309-8292-0, EUR 34,90
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Das Verhältnis der Deutschen zum Wald erscheint vielfach als Gradmesser gesellschaftlicher und politischer Befindlichkeiten. [1] Klaus Schriewers Frage nach dem "Waldbewusstsein" (10) der Deutschen verspricht Aufschlüsse, wie es um diese steht. Er geht dem Verständnis des Waldes und dem Umgang mit ihm auf drei Feldern nach: dem Naturschutz, der Jagd und dem Wandern, hinzu kommt die Forstwirtschaft.
Im Vorwort betont der Autor, dass die Studie, zehn Jahre vor dem Druck als Habilitationsschrift entstanden, unverändert publiziert wurde. Die vielfältige zwischenzeitlich erschienene Literatur zur Wald- und Umweltgeschichte ist explizit nicht eingearbeitet worden. Das betrifft damit auch wahrnehmungsgeschichtliche Analysen wie die Martin Knolls oder die auf gesellschaftliche Deutungsmuster abzielende Arbeit Martin Bemmanns; neueste ideengeschichtliche Arbeiten wie die Johannes Zechners konnten selbstverständlich ebenfalls keine Berücksichtigung finden. [2] Was kann der Band also trotzdem leisten?
Schriewers Studie ist gegenwartsorientiert. Der Schwerpunkt dieser "Kulturgeschichte des Waldes" liegt auf der Zeit nach 1945. Den Untersuchungsraum bildet im Kern die Bundesrepublik, selten wird die Situation in der DDR angesprochen. Teilweise greift Schriewer, der selbst die Notwendigkeit einer historischen Einbettung betont, ins 19. Jahrhundert zurück, weiter kaum. Diese je nach Kapitel unterschiedlich starke, insgesamt recht knappe historische Verortung ist freilich mit dem vorrangigen Interesse am "gegenwärtigen Bewusstsein" und dessen diskursiver Verortung zu erklären (10).
Ein Theorie- und Methodenkapitel sowie ein Kapitel zu den Paradigmen der Forstwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg stehen am Anfang. Schriewer, der in der theoretischen Rückbindung auf Hegel und den Bewusstseinsbegriff Albrecht Lehmanns [3] verweist, betont die "kulturelle Relativität des Bewusstseins" (22). Die Studie ist entsprechend kulturwissenschaftlich orientiert und verbindet volkskundliche und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Ihre Quellengrundlage sind sogenannte "Forschungsgespräche" (38), Interviews mit aktiver, methodisch reflektierter Beteiligung des Forschers, zudem Publikationen von Verbänden und staatlichen Stellen, Bürgereingaben aus Hamburg und teilnehmende Beobachtungen. Was hier Kulturgeschichte heißt, ein inzwischen bekanntlich äußerst vager Begriff, wird allerdings nicht dezidiert diskutiert.
Das Kapitel zur Forstwirtschaft fokussiert sich auf die Forstverwaltungen als zentralen Akteur. Auch gegenwärtig verstehen die Forstleute ihre Arbeit, so wird deutlich, als generationenübergreifenden Prozess. Dabei sind in der Nachkriegszeit aus forstwissenschaftlicher Sicht drei Phasen mit jeweils veränderten Paradigmen zu unterscheiden: Die 50er- und 60er-Jahre mit ihrer Orientierung am Produktionswald und den Fichtenmonokulturen, der darauf folgende "möblierte Wald" (57) mit Trimm-dich-Pfaden, Grillhütten und anderem zur Erholung der Bevölkerung und - in zeitlicher Überlagerung - seit den 70er-Jahren der "naturgemäße" Wald (64), resultierend aus den Einflüssen der Umweltbewegung.
Inhaltlich und schon quantitativ bildet Kapitel 3 zu den "Formen des Waldbewusstseins" das Zentrum des Buches. Schriewer sieht die Bereiche Naturschutz, Jagd und Wandern von jeweils unterschiedlichen Bewusstseinsformen und Naturkonzepten geprägt. Für den Naturschutz sei, basierend auf der Trennung zwischen Natürlichem und Künstlichem, eine Perspektive der Naturzerstörung maßgeblich, das Narrativ sei das der zu erhaltenden Natur. Aus Sicht der Jagd stehe hingegen die Regulierung der Natur im Vordergrund. Der Wald werde vorrangig als vom Menschen überwachter tierischer Lebensraum begriffen. Für die Wanderer schließlich sei der Wald eine sinnlich erfahrbare Gegenwelt zu ihrem Alltag und zur modernen Welt. Ihnen gehe es um eine "ästhetische Natur" (14). Diese spezifischen Einschreibungen und Deutungsweisen der Natur sind zunächst nicht überraschend. Sie korrespondieren, wie Schriewer darstellt, mit den unterschiedlichen Nutzungen der Natur und den Nutzungsanforderungen an sie. Er kann hier aber zum einen zahlreiche aufschlussreiche Beobachtungen machen. So begründen die interviewten Naturschützer ihr Engagement mit persönlichen Erlebnissen. In der privaten Geschichte, die sie erzählen, kommt schon die Zeitgeschichte praktisch nicht vor, die lange Geschichte des Naturschutzes [4] wird nicht aufgegriffen. Ebenso hat Schriewer einen genauen Blick für Begriffe, Topoi, Symboliken und Raumwahrnehmungen, wie nicht nur die Ausführungen zur Bedeutung des Waldrandes für die Jäger und zu deren "mental maps" zeigen. Zum anderen macht die Studie das wechselseitige Beeinflussungsverhältnis der verschiedenen "kulturellen Praxen des Waldes" (11) erkennbar. Nicht selten geraten sie miteinander in Konflikt. Entwicklungen in einem Bereich müssen aber durchaus nicht zu Veränderungen in den anderen führen. Konkret fassbar wird dies an Beispielen wie den Sichtschneisen im Wald. Von den Wanderern geschätzt, gehen sie vielfach auf für die Forstleute überholte Waldbewirtschaftungsformen zurück. Vielmehr als die Naturschützer aber akzeptieren die Wanderer die Gestaltung der Natur durch den Menschen.
Nicht recht klar geworden ist jedoch aus Sicht der Rezensentin, warum Kapitel 2 zu den Formen des Waldbewusstseins dem Folgenden als Basis vorgeschaltet wird. Das Waldbewusstsein der Forstleute unterliegt schließlich prinzipiell vergleichbaren Wahrnehmungs- und Deutungsprozessen wie das von Naturschützern, Jägern und Wanderern. An verschiedenen Stellen wäre ein genauerer historischer Blick wünschenswert, auch wenn den Akteuren gesellschaftliche und politische Voraussetzungen des eigenen Handelns wie mögliche Vorprägungen selbst nicht präsent sein sollten. Vieles wird hier äußerst knapp gestreift. Eine Art Blütenlese zur ästhetischen Naturerfahrung seit dem späten 17. Jahrhundert beispielsweise konfrontiert den Leser in elf Zeilen mit sechs Autoren (158f.). Das geht mit der Praxis einher, ältere Quellen nach der Sekundärliteratur zu zitieren. Gerade weil ein gezieltes obrigkeitliches-staatliches Eingreifen in die Natur keine Neuerung der Moderne ist und Fragen des Umgangs mit der Natur immer wieder stark politisiert worden sind, hätte eine intensivere historische Ausleuchtung vielleicht stärker Antworten darauf ermöglicht, was die gewonnenen Ergebnisse im Hinblick auf das Politische bedeuten.
Schriewer nimmt aber erfolgreich, und das ist hervorzuheben, verschiedene maßgebliche Nutzer und Gestalter des Waldes in den Blick und setzt ihre Perspektiven in Beziehung zueinander. Schon vom Ansatz her dominiert nicht der Mythos des deutschen Waldes [5], sondern der Fokus auf Differenzen im Wald-Bewusstsein. Schriewer bietet dabei Einblicke in die individuellen Vorstellungswelten der Befragten. Die Stärke des Buches macht jedoch aus, dass es darstellt, wie die je spezifischen Aneignungen der Gruppen zu je eigenen Auffassungen des Waldes werden - bis hin zu den angedeuteten unterschiedlichen ästhetischen Konzepten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. bspw. den Erfolg von Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren - die Entdeckung einer verborgenen Welt, München 2015.
[2] Vgl. bspw. Ursula Breymayer / Bernd Ulrich (Hgg.): Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, Dresden 2011; Peter E. Fäßler: Umweltgeschichte von der Industriellen Revolution bis heute, Darmstadt 2014; Reinhold Reith: Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit, München 2011 bzw. Berlin / Boston 2011 (Online-Ressource); Martin Knoll: Die Natur der menschlichen Welt: Siedlung, Territorium und Umwelt in der historisch-topografischen Literatur der Frühen Neuzeit, Bielefeld 2013; Martin Bemmann: Beschädigte Vegetation und sterbender Wald. Zur Entstehung eines Umweltproblems in Deutschland 1893-1970, Göttingen 2012; Johannes Zechner: Der deutsche Wald: Eine Ideengeschichte zwischen Poesie und Ideologie 1800-1945, Darmstadt 2016.
[3] Vgl. Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf: Autobiographische Untersuchungen, Frankfurt a. M. / New York 1983.
[4] Vgl. u.a. Friedemann Schmoll: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. / New York 2004.
[5] Schriewer hat dazu selbst publiziert, vgl. Albrecht Lehmann / Klaus Schriewer (Hgg.): Der Wald - Ein deutscher Mythos?, Berlin 2000.
Astrid Ackermann