Johannes Koll: Arthur Seyß-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940-1945), Wien: Böhlau 2015, 691 S., 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-79660-2, EUR 59,90
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Die nationalsozialistische Besatzung der Niederlande hat in der deutschsprachigen Forschung bisher vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit gefunden. [1] Zu Arthur Seyß-Inquart, dem als Reichskommissar der Niederlande fünf Jahre lang die nationalsozialistische Zivilverwaltung unterstellt war, fehlten bislang umfassend angelegte wissenschaftliche Studien. Die Arbeit von Johannes Koll ist schon allein vor diesem Hintergrund äußerst verdienstvoll.
Hauptanliegen des Autors ist es, einen Beitrag zur Frage nach der Bedeutung von "Zwischeninstanzen" im nationalsozialistischen System zu liefern. Zu diesem Zweck untersucht er mittels eines politikfeldanalytischen Ansatzes das "politische Wirken [des Reichskommissars] problemorientiert anhand von konkreten Arbeitsbereichen" (26). Die Entscheidung für das Format einer Biografie ist hier am ehesten vor dem Hintergrund des Wunsches verständlich, die Person Seyß-Inquart auch "im Kontext der Täterforschung zu verorten" (25), denn die Quellenlage lässt ein derartiges Unternehmen eigentlich nicht zu. Die Bestände der Reichsführung und der Reichszentralverwaltung sowie des Reichskommissariats sind zwar erhalten und wurden für die Arbeit ebenso akribisch ausgewertet wie diverse Reden und Denkschriften Seyß-Inquarts. Seine dienstliche und persönliche Überlieferung ist jedoch äußerst fragmentarisch. Selbst unter Berücksichtigung retrospektiv getroffener Äußerungen und zeitgenössischer Einschätzungen Dritter sind einige zentrale Fragen im Hinblick auf seine Person nicht abschließend zu klären.
Die Entwicklung zum überzeugten Nationalsozialisten etwa lässt sich kaum nachzeichnen, biografisch fassbar wird Seyß-Inquart erst in dem Moment, da er sich für den Anschluss Österreichs einzusetzen begann. Diese Phase seines Lebens ist jedoch bereits relativ gut erforscht, und Koll hat den entsprechenden Teil seiner Analyse bereits in anderer Form publiziert. [2] Der Autor macht vor diesem Hintergrund aus der Not eine Tugend, beschränkt die Schilderung des Aufstiegs Seyß-Inquarts auf das vergleichsweise kurze zweite Kapitel und konzentriert sich dann ganz auf die Jahre 1940 bis 1945. Die bisherige Forschung zum Thema findet dabei eingehend Berücksichtigung.
Dem zentralen Gegenstand seiner Untersuchung nähert sich Koll in einem Doppelschritt. Im dritten Kapitel schildert er zunächst chronologisch die Entwicklung der Niederlande unter deutscher Besatzung. Dabei geht er von vier Phasen aus: "Werben für den Nationalsozialismus", "Verhärtung", "Weitere Radikalisierung", "Verfall der deutschen Herrschaft". Ausführlich thematisiert er hier insbesondere die erfolglosen Versuche des Reichskommissariats, den aufkommenden Widerstand mittels diverser Verordnungen zu unterdrücken. Im vierten Kapitel wird detailliert die Ernennung Seyß-Inquarts zum höchsten Repräsentanten des nationalsozialistischen Deutschland in den besetzten Niederlanden untersucht. Koll identifiziert hier die Eigeninitiative des Österreichers nach der Entscheidung der Reichsführung für eine Zivilverwaltung als ausschlaggebenden Faktor.
Getreu seinem politikfeldanalytischen Zugang widmet sich der Autor anschließend in den thematisch ausgerichteten Kapiteln fünf bis zwölf der Beantwortung der Frage, wie der Reichskommissar die Niederlande mittels Nazifizierung, "Gleichschaltung" und zunehmender Repression in das nationalsozialistische System zu integrieren suchte. Differenziert analysiert werden zunächst Grundlagen und Ziele der Zivilverwaltung. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Interaktion verschiedener Instanzen im Reich und im besetzten Gebiet, zwischen denen Seyß-Inquart vermitteln musste. Koll sieht dessen Erfolg in einer "Schaukelpolitik" (u.a. 311) begründet, die vor allem aus permanentem Hinhalten und sich widersprechenden Zusicherungen gegenüber den verschiedenen Akteuren bestand.
Es folgen drei Kapitel zu ausgewählten Aspekten der Verfolgungs- und Unterdrückungspolitik. Was die systematische Ausgrenzung, Enteignung und Deportation von Jüdinnen und Juden anbelangt, kommt Koll zu einer Neubewertung der Rolle des Reichskommissars. So zeichnete Seyß-Inquart nicht nur für die Schaffung der rechtlichen Grundlagen verantwortlich, sondern tat als überzeugter Antisemit auch alles in seiner Macht Stehende, um deren Umsetzung zu gewährleisten - höchstwahrscheinlich im Wissen um den Genozid. Das anschließende Kapitel zur Verfolgung der Sinti und Roma ist dagegen mit viereinhalb Seiten sehr kurz gehalten und bleibt in Ermangelung aussagekräftiger Quellen vage. Was die Bekämpfung von Widerstand angeht, konzentriert sich Koll exemplarisch auf die Geiselpolitik, deren zentrale Bedeutung er belegen kann.
Den ökonomischen Eingriffen der Besatzungsmacht zwischen Lenkung der Wirtschaft und staatlich organisiertem Raub ist das elfte Kapitel gewidmet. In Anlehnung an Hein Klemann [3] wird hier von drei Phasen ausgegangen. Bis Ende 1941 ging es vor allem um eine Anbindung der niederländischen Wirtschaft an die des Reichs, dann setzte jedoch eine systematische Ausbeutung aller Ressourcen ein. Ab Herbst 1944 kamen schließlich vorsätzliche Zerstörungsmaßnahmen hinzu.
Aufschluss über Selbstverständnis und Amtsführung des kunstsinnigen Reichskommissars gewähren insbesondere die Kapitel zwölf und dreizehn, die dessen kultur- und wissenschaftspolitischen Vorstellungen gewidmet sind. Der 1944 zum Präsidenten der Deutschen Akademie ernannte Österreicher konzentrierte seine Bemühungen hier auf die Propagierung großdeutscher Kultur, die Schaffung nationalsozialistischer Organisationen sowie auf politisch und vor allem antisemitisch motivierte "Säuberungen". Koll vertritt in Abgrenzung zur bisherigen Forschung überzeugend die These, hier liege ein konsistentes Programm vor, das sich gleichwohl nicht habe realisieren lassen.
Im Machtkampf mit der Wehrmacht konnte der Reichskommissar bis zuletzt den Primat der Zivilverwaltung sichern. Wie in Kapitel vierzehn deutlich wird, schwand sein Handlungsspielraum jedoch zusehends. Während der Verhandlungen mit Exilregierung und Alliierten versuchte er so lange, die Niederlage hinauszuzögern, dass es ihm am Ende nicht mehr gelang, deren Bedingungen mitzubestimmen. Hitler designierte ihn zwar noch in einem letzten Akt des Vertrauens zum Außenminister, als solcher amtieren konnte Seyß-Inquart jedoch nicht mehr.
Stattdessen wurde er verhaftet, vom Internationalen Militärgerichtshof zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet. Die Druckfassung von Kolls Habilitationsschrift ist hier gegenüber der ursprünglichen Konzeption sinnvollerweise um ein Kapitel erweitert, für das bisher unbekannte Quellen ausgewertet wurden. Sie erlauben tiefe Einblicke in Seyß-Inquarts Weltanschauung und seine Strategie im Nürnberger Prozess. Der Autor schließt mit den Worten, dort sei dem vormaligen Reichskommissar für seine in den Niederlanden begangenen Verbrechen "mit guten Gründen [...] die Rechnung präsentiert" (630) worden.
Insgesamt liefert Koll eine wertvolle Darstellung der nationalsozialistischen Besatzungspolitik in den Niederlanden, die bisherige Forschungen sinnvoll bündelt und ergänzt. Den biografischen Anspruch kann er dabei nicht ganz erfüllen. In Ermangelung aussagekräftiger Quellen bleibt die Person Seyß-Inquart auch nach über 600 Seiten eher blass. Es gelingt Koll jedoch, überzeugend herauszuarbeiten, welch herausgehobene Stellung der Reichskommissar unter den Zwischeninstanzen des nationalsozialistischen Systems hatte. Dank seiner hervorragenden Vernetzung konnte Seyß-Inquart die ihm gestellten Aufgaben nach seinen Vorstellungen erfüllen und sich bis zuletzt die Entscheidungsgewalt in den besetzten Niederlanden sichern.
Anmerkungen:
[1] Zu nennen sind hier vor allem zwei Werke älteren Datums: Konrad Kwiet: Reichskommissariat Niederlande. Versuch und Scheitern nationalsozialistischer Neuordnung, Stuttgart 1968; Gerhard Hirschfeld: Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940-1945, Stuttgart 1984.
[2] Johannes Koll: From the Habsburg Empire to the Third Reich: Arthur Seyß-Inquart and National Socialism, in: Austrian Lives, ed. by Günter Bischof / Fritz Plasser / Eva Maltschnig, New Orleans/Innsbruck 2012, 123-146; ders.: Profilierung im prekären Staat. Zu Karrieremustern im Dritten Reich am Beispiel von Arthur Seyß-Inquart, in: Entrepreneurship in schwierigen Zeiten. Unternehmertum, Karrieren und Umbrüche während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beiträge gesammelt zu Ehren von Peter Berger, hg. von Peter Eigner / Herbert Matis / Andreas Resch, Wien/Münster 2013, 259-308.
[3] Hein A.M. Klemann: Nederland 1938-1948. Economie en samenleving in jaren van oorlog en bezetting, Amsterdam 2002.
Maya I.S. Gradenwitz