Wolfgang Burgdorf (Bearb.): Die Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519-1792 (= Quellen zur Geschichte des Heiligen Römischen Reiches; Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 884 S., ISBN 978-3-525-36082-8, EUR 89,99
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Wolfgang Burgdorf: Protokonstitutionalismus. Die Reichsverfassung in den Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519-1792 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 94), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 226 S., ISBN 978-3-525-36085-9, EUR 59,99
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Wolfgang Burgdorf legt zwei miteinander eng verwobene Bücher zu den Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser vor. Das erste Werk ist die monographische Edition aller Wahlkapitulationen von Karl V. 1519 bis zu Franz II. 1792, zusätzlich der projektierten beständigen Wahlkapitulation von 1711. Das zweite Werk beinhaltet seine analytischen Gedanken zur Reichsverfassung, wie sie sich aus den von ihm edierten Wahlkapitulationen ableiten lassen.
Die Edition ist ein dringendes Desiderat der historischen Verfassungsforschung, längst überfällig, umfangreich und genauso akribisch wie umsichtig gestaltet. Sie stellt keine eigenen Editionsrichtlinien auf, sondern richtet sich legitimer Weise nach den Grundsätzen der Edition der Deutschen Reichstagsakten. Zu Grunde liegt, auch bei mehreren erhaltenen Ausfertigungen, die Überlieferung des Bestandes des Mainzer Erzkanzlerarchivs im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Der Bearbeiter hat zur besseren Les- und Vergleichbarkeit eine Kapitelzählung eingefügt und dort als seine Ergänzung kenntlich gemacht, wo die Originale keine Zählungen aufweisen. Am Beginn jeden Stückes findet sich eine Beschreibung der Quellenvorlage in Form einer Fußnote.
Angereichert ist die Edition mit einem Literaturverzeichnis. Das ist deswegen erwähnenswert, weil es interessant gestaltet ist und neben der eigentlichen Edition mit ihren inhaltlichen Aspekten einen zweiten Anreiz zu wissenschaftlicher Forschung bietet: Burgdorf führt für jede der Kapitulationen alle recherchierbaren frühneuzeitlichen Einzeleditionen, frühneuzeitliche Sammeleditionen und moderne Editionen getrennt voneinander auf. Zusammen mit seinen Ausführungen zu den "Frühneuzeitliche[n] Veröffentlichungen der Wahlkapitulationen" (173-181 in dem zweiten zu besprechenden Werk) ist hier quasi eine Anleitung zur editionswissenschaftlichen Aufarbeitung gegeben. Es ist bedauerlich, dass der Herausgeber mit seinem reichen Spezialwissen um diese Thematik eine solche Untersuchung nicht selbst in der Tiefe durchgeführt hat.
Die analytischen Ausführungen in dem zweiten hier zu besprechenden Band sind in 19 Kapitel gegliedert, die man in vier Kategorien einteilen kann. Der erste Komplex ist der, vorwiegend politischen, Kontextualisierung gewidmet (11-18 und 53-75). Er kann auch ohne weiteren Rückgriff auf die Wahlkapitulationen als einführender Text zum politischen System des Alten Reiches für die universitäre Lehre genommen werden.
Der zweite Komplex behandelt die editorischen Grundlagen des ersten besprochenen Buches. Burgdorf berichtet über den Begriff 'Wahlkapitulation', referiert den Forschungsstand, kontextualisiert Originale und Überlieferung sowie mit den Kollegialschreiben der Kurfürsten eine weitere relevante Quellengruppe (19-52). Wichtigstes Kernstück, um sich die Wahlkapitulationen bequem erschließen zu können, sind seine Ausführungen zu den Veränderungen in den Wahlkapitulationen über die fast 300 Jahre Berichtszeitraum (76-98).
Der dritte Komplex bezieht sich auf die engere analytische Auswertung in ihrer geschichtswissenschaftlichen Verortung. So bezieht der Verfasser die Aussagen der Wahlkapitulationen beispielsweise auf die Frage nach den Grenzen des Reiches und betont die Rolle der Wahlkapitulationen für die Ausformung einer reichsweit einheitlichen deutschen Sprache (99-154). Es sei dahingestellt, ob die Feststellung, dass sich die Datierung der Wahlkapitulationen nach dem Usus des ausstellenden Hofes richtete (129), ein eigenständiges Kapitel verdient.
Der vierte Komplex (155-203) stellt die vormoderne Reichsverfassung, die sich unter anderem aus den Wahlkapitulationen ergab, als eine auf die modernen Verfassungen hinweisende protokonstitutionelle Phase dar. Burgdorf belegt in diesem Teil eine lange Verfassungstradition. Er formuliert dabei aber keine klare Linie von den Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser hin zu den modernen Verfassungen wie dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Hier würde insbesondere das Kernelement der Volkspartizipation an der Staatsgewalt fehlen (28). Vielmehr verweist er auf eine Verfassungstradition und die Vorbildfunktion der Verfasstheit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation für zum Beispiel die Verfassungen der jungen USA und Frankreichs Ende des 18. Jahrhunderts und spätere Verfassungen insbesondere auf deutschen Boden.
Durch die Wahlkapitulationen seien "Verfahrensformen und rechtliche Einhegungen der Exekutive" (155f.) eingeführt worden, die später zum festen Repertoire konstitutioneller Verfassungen geworden seien. Die Wahlkapitulationen verbürgten grundrechtliche Gewährleistungen, die auf alle Einwohner des Reiches zutrafen und nicht wie mittelalterliche Privilegierungen auf herausgehobene Gruppen abzielten (158). Die Verfassung des Reiches bot jedem die zumindest theoretische Möglichkeit, seine Obrigkeit auf dem Rechtswege zu belangen, stellte bei Armut des Beschwerdeführers sogar die Prozesskosten der beklagten Obrigkeit in Rechnung (155). Gerade die weite Verbreitung der Wahlkapitulationen in Druckform stellte jedem Informationen über die Verfassung des Reiches und seine Rechte zur Verfügung. "Die Transparenz der Reichspolitik war ein Charakteristikum der politischen Kultur des Reiches" (173).
Kritische Bemerkungen sind interpretatorischen Charakters: So spricht der Rezensent lieber von Verfasstheit des Reiches als von Reichsverfassung wie es der Titel des besprochenen Buches vorgibt. Die Kluft zwischen Verfassungsnorm und -wirklichkeit ist Burgdorf bewusst, könnte in der Analyse aber schärfer berücksichtigt werden. Möglicherweise wird sich eine ertragreiche Diskussion um die Frage entfalten, ob die postulierte Vorbildfunktion für spätere Verfassungen tatsächlich gegeben war und ob die Begriffswahl 'Protokonstitutionalismus' sinnvoll ist. Der Rezensent folgt der Argumentation des Verfassers in beiden Punkten. Weitere Detailstudien zu diesem Fragenkomplex sind sinnvoll und wünschenswert.
Beide hier besprochenen Werke sind wissenschaftlich relevant und regen weitere Forschungen und Diskussionen an. Sie werden in kaum einer Bibliothek zur frühneuzeitlichen Reichs-, Verfassungs- und Rechtsgeschichte fehlen.
Dennis Hormuth