John H. Arnold (ed.): The Oxford Handbook of Medieval Christianity, Oxford: Oxford University Press 2014, XIV + 580 S., ISBN 978-0-19-958213-6, GBP 95,00
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Wenn nicht alles täuscht, erleben wir derzeit eine irritierend paradoxe Entwicklung: Einerseits nimmt das Wissen, das traditionell in Handbüchern kanonisiert wurde und das man, dort gedruckt, getrost nach Hause tragen oder in der Prüfung zum besten geben konnte, das 'Handbuchwissen' eben, rapide ab - und zwar nicht (nur) in dem Sinne, dass es die Studenten immer weniger beherrschen, sondern auch, dass es an Plausibilität oder doch an Relevanz und Geltung verliert. Andererseits scheinen sich die Werke jener Gattung wissenschaftlicher Literatur, der diese Kanonisierung oblag, geradezu explosionsartig zu vermehren. Handbücher, so scheint es, gibt es mittlerweile über alles und jeden. Wie passt das zusammen - wenn es denn zusammenpasst?
Eine prägnante Antwort darauf - nicht die einzig mögliche - findet man in den Klappentexten des Schutzumschlages zum "Oxford Handbook of Medieval Christianity". Dort ist von "cutting-edge interpretive perspectives", von "up-to-date surveys of original research in a particular subject area" und von "critical examinations of the progress and direction of debates, as well as a foundation for future research" die Rede. Nun tut ein Rezensent gut daran, derartige Paratexte weder allzu ernst zu nehmen, noch gar die Autoren des Buches für sie verantwortlich zu machen. Diese Formulierungen sind hier zitiert, weil sie pointierter und klarer den Anspruch und die Programmatik des Werkes benennen, als es dem Herausgeber in der Einleitung möglich gewesen wäre. Das liegt natürlich daran, dass hier Programmatik und Reklame ununterscheidbar ineinander laufen. Wie immer man die tatsächliche Umsetzung dieser Ansprüche in den einzelnen Kapiteln bewerten möchte, eines ist klar: um Kanonisierung geht es hier nicht.
Die Geschichte des mittelalterlichen Christentums in einem gerade noch handlichen Band von knapp 600 Seiten abzuhandeln, ist - ob althergebracht oder "up-to-date" - eine Herausforderung. Das Handbuch begegnet ihr zunächst mit thematischen Eingrenzungen: Christentum meint hier das lateinische Christentum. Geschichte des Christentums meint zudem nicht die Geschichte der Kirche als Institution, sondern primär die Geschichte der Christen, der Laien vor allem, aber auch des Weltklerus, der Mönche und nicht zuletzt der Nonnen. (Wie überhaupt Frauen eine erfreulich große Rolle spielen, was sicherlich nicht zuletzt daran liegt, dass knapp die Hälfte der Beiträger weiblich ist.) Schließlich geht es vor allem um den religiösen Alltag der Menschen. Entsprechend wird zumeist eine "bottom-up" Perspektive eingenommen. So kommt das Papsttum erst im drittletzten Kapitel zur Sprache, und das auch noch unter dem Titel: "Papal Authority and Its Limitations" (Kathleen G. Cushing). Aus der Perspektive des Werkes ist das konsequent und vermag mit guten Gründen das Gerede von der vermeintlichen 'mittelalterlichen Papstkirche' ad absurdum zu führen.
Eine konventionelle chronologische Darstellung wird verworfen mit dem (den Rezensenten nicht ganz überzeugenden) Argument, eine solche verleite zur Teleologie. Stattdessen ist das Buch nach einer Einleitung des Herausgebers in einen methodischen und fünf thematische Teile eingeteilt, die zusammen 30 durchgezählte Kapitel umfassen, inklusive eines Rückblicks von der Reformation her (R. Po-chia Hsia), der dem letzten Teil zugeschlagen ist. Die fünf thematischen Blöcke: "Spaces", "Practices", "Ideas", "Identities" und "Power", bieten einen recht lockeren Rahmen, in den die Beiträge mit einer gewissen Beliebigkeit eingeordnet sind, so als solle der Aufbau die Botschaft verkünden: Keine Teleologie, keine Meistererzählung! Allerdings lässt sich die skizzierte Programmatik des Handbuchs darin erkennen, dass die "Practices" vor den "Ideas" abgehandelt werden.
Manche Themen (etwa das Mönchtum) werden unter verschiedenen Fragestellungen in unterschiedlichen Teilen behandelt. Das heißt nicht, dass die Anordnung konfus wäre, aber sie könnte eben auch ganz anders aussehen. So könnte der zweite Beitrag zum Mönchtum (Constance H. Berman) statt unter "Identities" genauso gut unter "Practices" stehen, während der erste Beitrag dort über die institutionelle Kirche (Ian Forrest) ebenso gut unter "Power" gepasst hätte. Der Rezensent hat sich zunächst gefragt, warum der Beitrag über "Popular Religious Culture(s)" (Laura A. Smoller) unter "Ideas" statt unter "Practices" zu finden ist, bevor er bemerkte, dass er in einer Reihe von vier Kapiteln steht, die, beginnend mit der Ausbildung eines klerikalen Habitus (Maureen C. Miller) über das Verhältnis der theologischen Eliten zum einfachen Kirchenvolk (Peter Biller) und den besagten Beitrag von Smoller bis zu einem über Glaubenszweifel und Unglaube (Dorothea Weltecke), die thematisch stringenteste Abfolge des Bandes bilden.
Auch wenn die Organisation des Ganzen nicht frei von Willkür ist und man den Verdacht nicht los wird, die Verteilung der Beiträge auf die thematischen Blöcke sei nicht zuletzt deren quantitativer Ausgewogenheit geschuldet, ist es gleichwohl nicht so, als hätte hier der Verlag eine ziemlich heterogene Aufsatzsammlung aus verkaufsstrategischen Gründen zum "Handbuch" erhoben. Es ist nicht allein die formale Gleichförmigkeit der Kapitel, die zumeist durch Zwischenüberschriften gegliedert sind und regelmäßig mit Endnoten und Listen weiterführender Literatur enden, sondern auch deren Inhalt, der die Bezeichnung als Handbuch rechtfertigt. Die Herausforderung, auf etwa 20 Seiten ein umfangreiches und komplexes Thema abzuhandeln, hat unterschiedliche Lösungen hervorgebracht, breite, notwendig skizzenhafte Überblicke mit Darstellungen exemplarischer Einzelfälle zu verbinden.
Die lockere Gliederung des Handbuchs, seine thematische Vielfalt, die jedoch keineswegs das mittelalterliche Christentum erschöpfend behandeln kann, und die Gestaltung der einzelnen Kapitel, in denen sich diese Charakteristika gewissermaßen fortsetzen, macht es nicht nur schwer, nach Desideraten zu fragen, sondern lässt grundsätzlich Zweifel aufkommen, ob eine derartige Frage an dieses Werk überhaupt sinnvoll gestellt werden kann. Natürlich lassen sich problemlos Lücken aufzählen. Die Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts etwa kommen praktisch gar nicht vor - außer einer Nennung des Konstanzer Konzils (16). Überhaupt behandeln manche Kapitel das Spätmittelalter nicht oder nur im Ausblick, auch wenn diese zeitliche Einschränkung in ihren Titeln nicht expliziert wird.
Insgesamt wird das Werk den eingangs zitierten Ansprüchen aber in erfreulich weitem Maße gerecht. Wenn freilich kein kanonisches Wissen, das für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte als Richtschnur gelten kann, vermittelt, sondern von vorderster Forschungsfront berichtet werden soll, lautet die Konsequenz: häufige, gründlich überarbeitete Neuauflagen. Ob Herausgeber, Autoren und Verlag dazu bereit sind? Immerhin ließe sich der Verzicht auf die solide Fadenheftung zugunsten einer billigeren Klebebindung mit etwas Wohlwollen in diese Richtung deuten.
Josef Pieper hat einmal im Blick auf die Sentenzen des Petrus Lombardus, das Lehrbuch der scholastischen Theologie des Mittelalters, gemeint, diese seien, wie jedes gute Schulbuch, etwas langweilig. Dass es etwas langweilig sei, kann man von dem hier vorgestellten Handbuch nicht sagen. Ist es demnach kein gutes Lehrbuch? Ob der Umkehrschluss hier zulässig ist, lässt sich schon deshalb nicht sagen, weil der universitäre Einsatz eines derartigen Handbuchs so vielfältig sein kann, dass sich eine pauschale Antwort ohnehin verbietet. Allerdings hat die Lektüre zwei Fragen aufgeworfen, die an das offene Ende gestellt seien: 1. Wie viel und was nimmt ein Student, dem das traditionelle Handbuchwissen über die mittelalterliche Kirchengeschichte fehlt, von dem reichen Inhalt des Werkes mit? 2. Was passiert, wenn dieser Inhalt als Handbuchwissen rezipiert und kanonisch wird?
Stephan Waldhoff