Friedrich Wilhelm Schembor: Galizien im ausgehenden 18. Jahrhundert. Aufbau der österreichischen Verwaltung im Spiegel der Quellen. Mit einem Vorwort von Harald Heppner, Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2015, 466 S., ISBN 978-3-89911-216-0, EUR 78,75
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Die Inkorporation des Gebietes, das Österreich im Zuge der ersten, dann auch der weiteren Teilungen Polens erhielt, führte zur Schaffung des "Königreichs Galizien und Lodomerien". Da diese Bezeichnung an die mittelalterlichen Fürstentümer Halič und Vladimir anknüpfte, wurde das Land in der offiziellen Terminologie "revindiziert", letztlich aber war dieser Rückgriff konstruiert. Das annektierte Land war eine terra incognita für Maria Theresia und Joseph II. wie auch für die mit der administrativen Eingliederung in die Monarchie beauftragten Beamten.
Gibt es einige wegweisende Studien zur Geschichte Galiziens bis 1848 und nicht zuletzt Larry Wolffs Werk über die Erfindung und "Karriere" des Begriffes Galiziens [1], so möchte das anzuzeigende Werk die vorhandene Forschungslücke zur Verwaltungsgeschichte dieser Inkorporation in die Monarchie schließen und sich auf die Frühphase der habsburgischen Herrschaft konzentrieren. Hierbei sieht der Verfasser die Monarchen als oberste Beamte, die in den hierarchisch ablaufenden Entscheidungsprozess auf Basis umfangreicher Berichte einbezogen worden sind. Daher bezieht sich seine Studie alleinig auf die in Wien lagernden Akten; eine Gegenperspektive wird nicht analysiert, insbesondere die Bestände in den Lemberger Archiven wurden nicht konsultiert. Dies scheint insofern problematisch, als zwar jeweils alle aufeinander aufbauende Berichte in den Wiener Akten nach Angaben des Verfassers überliefert sind und herangezogen wurden, aber die Vorgänge, die die Berichte vorbereiteten, nicht in die Studie eingeflossen sind. Hier wäre zumindest eine stichprobenartige Gegenprobe sinnvoll gewesen, um festzustellen, ob und in welchem Rahmen die Wiener Berichte die tatsächlichen Ereignisse und Ergebnisse vor Ort wiedergaben.
Die Arbeit bezieht sich in den in jeweils chronologisch untergliederten Hauptteilen einerseits auf den Aufbau der allgemeinen Verwaltung, andererseits auf den der Polizei, wobei die Unterabschnitte teilweise sehr kleinteilig sind. So stellt Schembor zunächst ausführlich die Erkundung des Landes 1772/73 sowie die anschließende Bestandsaufnahme und die daraus bis 1783 resultierenden Maßnahmen dar. Dann stellt er die von Joseph II. während seiner Reise 1783 eingeforderten Berichte und diejenigen vor, die nach dessen und des Thronfolgers Franz Galizien-Aufenthalten Ende der 1780er-Jahre entstanden. Im zweiten Hauptkapitel schildert Schembor nach einigen grundlegenden Bemerkungen über die Anfänge der Polizei in Österreich und über erste Erfahrungen mit ihr in Prag und Brünn den Polizeiaufbau in Galizien. Hierbei greift er chronologisch weiter aus und bezieht die Annexion Westgaliziens im Zuge der dritten Teilung Polens mit in die Darstellung ein. Im Anhang gibt er schließlich den Entwurf einer Stadtpolizei in Lemberg, Anmerkungen über den Broder Distrikt und die Beschreibung der Königreiche Galizien und Lodomerien vom Juli 1773 wieder.
Abschließend bilanziert Schembor seine Betrachtung insofern, als dass er zum Schluss kommt, dass in den entscheidenden ersten fünfzehn Jahren habsburgischer Herrschaft über Galizien sich insbesondere Joseph II. derart intensiv um das Königreich gekümmert habe, dass für jene Zeit nicht von einem "'Far East' der Monarchie" (375) gesprochen werden könne. Er schließt daraus, dass die Formung eines neuen Staatsgebildes aus der "rückständigen, an einem Sumpf aus Feudalismus und Klientelwirtschaft versunkenen 'magnatischen Oligarchie'" (382) gelungen gewesen sei. Er ruft damit jenes, bereits in habsburgischen Zeiten gängige Galiziennarrativ auf, wonach die habsburgische Herrschaft letztlich als eine Erfolgsgeschichte für Galizien und vor allem dessen Hauptstadt Lemberg interpretiert und durchaus zu hinterfragende Entwicklungen mit diesem Narrativ überblendet wurden.
Obgleich Schembor einige wichtige, bislang noch nicht hinsichtlich der Annexionsgeschichte dieses Kronlandes detailliert ausgewertete Quellen in seine Studie einbezieht, so ist ihm dennoch vorzuwerfen, dass er zwar reichhaltiges Quellenmaterial heranzieht, es aber nicht einer tiefer gehenden Analyse unterzieht. Sein Text besteht vor allem aus Quellenzitaten, die miteinander durch Beschreibungen und Paraphrasen verbunden sind. Eine analytische Durchdringung des Materials ist kaum zu erkennen. Dies sei exemplarisch an dem eine Seite umfassenden Kapitel 16.12. über die "Organisation des Guberniums" (106-107) dargelegt: Die Darstellung umfasst sechs Zeilen und drei kleiner gedruckte Quellenzitate mit insgesamt 33 Zeilen und endet ohne analytische Bündelung des zuvor Gesagten.
Auch wenn der Autor sich bewusst gegen eine kulturhistorische Herangehensweise entschieden hat und der Grazer Historiker Harald Heppner in seinem Vorwort die Notwendigkeit betont, nicht trotz, sondern wegen des "akademischen Dekonstruktionsfiebers" (9) eine Studie zum Thema mit "quellengestützter Bodenhaftung" (ebd.) zu erstellen: aus Sicht der Rezensentin hat er damit ein wichtiges und zugleich spannendes Thema weder ausgeschöpft noch tiefer gehend analytisch durchdrungen. Das Buch liefert letztlich nur die Wiedergabe und deskriptive Verknüpfung relevanter und interessanter Quellen. Durch eine tiefere analytische Durchdringung des Themas hätten sich weitere zahlreiche spannende Fragestellungen zum Aneignungsprozess ergeben - hier bleibt durch diesen Ansatz die Analyse an der Oberfläche. Daher bleibt zu hoffen, dass dieser Band über die extensive Wiedergabe von Quellen zahlreiche Ansatzpunkte für weitere, vertiefende Studien liefern wird. Schade, dass der Autor seine Detailkenntnisse nicht genutzt hat, um diese selbst vorzulegen.
Anmerkung:
[1] Larry Wolff: The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture, Stanford 2010.
Heidi Hein-Kircher