Anja Pistor-Hatam: Geschichtsschreibung und Sinngeschichte in Iran. Historische Erzählungen von mongolischer Eroberung und Herrschaft, 1933-2011 (= Iran Studies; Vol. 10), Leiden / Boston: Brill 2014, VIII + 327 S., ISBN 978-90-04-27127-2, EUR 112,00
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In diesem Buch geht es auf einer ersten (deskriptiven) Ebene um die Beschreibung der mongolischen Eroberung und Herrschaft in Iran im 13. und 14. Jahrhundert in der modernen iranischen Historiographie. Auf einer zweiten (analytischen) Ebene sollen vor allem Fragen nach den in den Texten erkennbaren Bedeutungszuschreibungen beantwortet werden. Frau Pistor-Hatam wertet dazu eine beeindruckende Reihe sehr interessanter Autoren aus, die hier ruhig einmal genannt werden sollen: Abbas Eqbal (Aštiyani) (1897-1956), Zabihollah Safa (1911-1999), Reza Pazuki (1912-1940), Morteza Ravandi (1913-1999), Abdo l-Hosein Zarrinkub (1923-1999), Akram Bahrami (geb. 1931), Manučehr Mortazavi (1929-2010), Gholam Reza Ensafpur (1929-2000), Seyyed Abd ol-Ali Dastgheib (geb. 1931), Mohammad Ahmad Panahi (Semnani) (geb. 1934), Širin Bayani (geb. 1938), Amir Esma'ili (geb. 1940), Abbas Qadyani (geb. 1963), Rasul Ja'fariyan (geb. 1964), Fereidun Eslam-Niya (geb. 1965) und Sajjad Dadfar (geb. 1972). Hinzu kommt noch ein im Jahre 2000 veröffentlichter Sammelband zum Thema "Die mongolische Invasion in Iran und ihre Folgen".
Die Verfasserin setzt nicht gleich mit der Vorstellung und Analyse ihres Materials ein, sondern präsentiert uns zunächst einmal ausführlich ihre theoretischen Vorüberlegungen zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und Sinnstiftung. (26-101) Dabei stützt sie sich in erster Linie auf die Werke von Chris Lorenz, Brian Stock, David Carr, Jürgen Straub und Jörn Rüsen. [1] Vor allem Rüsen bietet mit seinen zahlreichen Studien über die sinnstiftende Funktion von Geschichtsschreibung einen ganz hervorragenden Ausgangspunkt für die Untersuchung der iranischen Texte. Schlüsselthemen sind etwa das Kitten von Traditionsbrüchen (Stichwort: Mongoleneinfall) oder die Heilung von kollektiven Kontingenzerfahrungen. Als ein nützliches Konzept erweist sich darüber hinaus die von Jan Assmann im Rahmen seiner Überlegungen zu Erinnerungskulturen eingeführten "Kohärenzfiktionen". [2] Mit Hilfe dieser Narrationen können in Gesellschaften, wie Assmann zeigt, Erinnerungen und Erfahrungen organisiert und verarbeitet werden.
An diese einführenden konzeptionellen Teile schließen sich ein nützlicher Überblick über die Entstehung und Entwicklung der persischsprachigen Geschichtsschreibung und ein Abschnitt über die vielfältigen und für das Gesamtthema überaus wichtigen Verflechtungen zwischen iranischem Nationalismus und iranischer Geschichtsschreibung an.
Das dritte Kapitel liefert Paraphrasierungen der wichtigsten historiographischen Texte aus der Feder oben erwähnten iranischen Historiker. Dabei präsentiert Anja Pistor-Hatam sinnvollerweise nicht jede einzelne Arbeit, sondern gliedert ihre Gesamtschau in folgende Themenblöcke: Die Folgen der mongolischen Eroberungen für Iran // Čengīz Ḫān (1155/56 - 1227) - großer Feldherr und grausamer Eroberer // Die mongolische Invasion unter Čengīz Ḫān (1219-1224) - Sieg und Niederlage // Mongolische Statthalter in Iran (1224-1256) - ein Intermezzo // Die Invasion unter Hulagu (1256-1258) Schuld und Befreiung // Die Herrschaft der Ilchane von Iran (1256-1335) - Islamisierung und Iranisiserung // Persische Berater und Wesire - Kämpfer für die iranische Sache. Die Verfasserin verzichtet darauf, diese Narrationen zu kommentieren, vielmehr gibt sie sie zusammenfassend wieder und setzt sie thematisch miteinander in Bezug. Ich halte dieses Vorgehen für plausibel, da nur so der Leser überhaupt einen Eindruck vom Inhalt der Originaltexte, die ja nur den Spezialisten bekannt sein dürften, bekommen kann.
Der abschließende Hauptteil der Studie gehört dann ganz der "Analyse dieser Narrative innerhalb des in den theoretischen Vorüberlegungen gesetzt analytischen Rahmens" (so die Kapitelüberschrift). Die Autorin kann hier sehr schön die Interaktion von Sinnkonstruktionen und Kohärenzfunktion einerseits und iranischer Geschichtsschreibung andererseits aufzeigen. Es geht um die Verarbeitung und Neudeutung der als Trauma und einschneidenden Bruch in der eigenen Geschichte empfundenen Mongoleninvasion einschließlich der Eroberung Bagdads im Jahre 1258 und des damit verbundenen Endes des dortigen islamischen Kalifats. Zur "Irritation dieses Bruchs" dienen, wie es der Verfasserin zu verdeutlichen gelingt, die in den historiographischen Texten dargebotenen Kohärenzfiktionen, die mit einer identitätsstabilisierenden Umdeutung der Geschichte einhergehen. Angeboten wird hauptsächlich, so Pistor-Hatam, die sinnstiftende Konstruktion einer 2500 Jahre alten 'nationalen' iranischen Identität, zu deren wesentlichen Bestandteilen eine 'persische Ethnizität' mit dem Neupersischen als Träger ihrer Kultur gehört.
Alles in allem liegt hier ein Buch vor, das ein inhaltlich spannendes und für die Iranistik wichtiges Thema überzeugend behandelt. Die drei Teile (theoretischer Rahmen, Materialpräsentation, Analyse) bauen gut aufeinander auf und liefern eine stilistisch ansprechende und argumentativ saubere Argumentation. Die Studie leistet einen nicht unerheblichen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichtsschreibung im modernen Iran.
Anmerkungen:
[1] Die wichtigsten Arbeiten sind David Carr: Time, Narrative and History. 2. Aufl. Bloomington 1991, Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln 1997, Brian Stock: Listening for the Text: On the Usage of the Past. Baltimore 1990, Jürgen Straub (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt am Main 1998, Jörn Rüsen et al. (Hg.): Die Vielfalt der Kulturen. Frankfurt am Main 1998; ders.: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. Köln et al. 1994; ders. (Hg.): Westliches Geschichtsdenken. Eine interkulturelle Debatte. Göttingen 1999; ders.: Zerbrechende Zeit: Über den Sinn der Geschichte. Köln 2001.
[2] Jan Assmann: Ägypten. Eine Sinngeschichte. München / Wien 1996.
Stephan Conermann