Ingrid Pfeiffer / Max Hollein (Hgg.): Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932. Ausstellung Kunsthalle Schirn Frankfurt/ Main, Köln: Wienand 2015, 400 S., ISBN 978-3-86832-277-4, EUR 45,00
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Die Ausstellung zeigt 280 Kunstwerke von achtzehn Künstlerinnen, die in Herwarth Waldens Berliner STURM-Galerie ausstellten und / oder in der Zeitschrift DER STURM vertreten waren. Zeitschrift und Galerie waren auf den kurzen Zeitraum 1910-1932 beschränkt. Der Schriftsteller, Komponist, Verleger Walden vertrat im Unterschied zu Kunsthändlern wie Paul Cassirer und Alfred Flechtheim zahlreiche Frauen, insgesamt über dreißig. Eine Bühne und eine Kunstschule verwirklichten sein avantgardistisches Programm, das auch Theater, Tanz und Pantomime umfasste. Einige Bühnenbildentwürfe, Kostüme, Ganzkörpermasken, ein Stummfilm (1924) geben Einblick in das multidisziplinäre Kunstunternehmen, jedoch überwiegen Gemälde und Grafiken. Unter strenger Beachtung gerechter Verteilung erhält jede Künstlerin einen mit annähernd der gleichen Anzahl von Werken und einer Infotafel bestückten Raumabschnitt. Die Ausstellung windet sich in Form einer Schlange durch die gesamte langgestreckte Halle, Exponate und Betrachter werden in die Dynamik der Inszenierung hineingezogen, welche die wilden Zwanzigerjahre suggeriert.
Exzeptionell ist die Schau, weil sie nicht nur, wie gewohnt, mit großen, sondern zu gleichen Teilen mit selten oder nie gehörten Namen das Publikum anzieht. Nach Münter, Werefkin, Delaunay, Gontscharowa, Exner u.a. sind nun viele weitere Künstlerinnen und ihr Werk in die Geschichte der Kunst eingeschrieben, etwa Marcelle Cahns Städtebilder in geometrischer Abstraktion und im Unterschied dazu die Holzschnitte Maria Uhdes, deren Paradiese sich weibliche Akte, Elefanten, Affen, Zebras einvernehmlich teilen, ebenso die Zeichenkunst von Marthe Donas, die zart schwebende Flächen in ausgewogenen Grauwerten zu bildfüllenden Köpfen verwebt.
Die für Sturm und Bauhaus kennzeichnende gattungs- und medienübergreifende Tendenz verdeutlichen in Katalog und Ausstellung einige Ensembles. Exners frühem kubistischen Akt (um 1912) und Marionetten folgen Bühnenbildentwürfe, die in dem Stummfilm "Aelita" (1924) zu gigantomanischen Architekturen gesteigert werden und Kostüme, deren raumgreifende Formen die filmische Belebung vorwegnehmen. Simultangemälde, ein exquisites Künstlerbuch, Kostümentwürfe und Textildesign vermitteln Sonja Delaunays Intention, die Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst aufzulösen.
Magda Langenstrass-Uhlig verweist auf die programmatische Verbindung von STURM und Bauhaus. Ihre Farbstudien aus Kursen von Klee und Kandinsky, Wandbildentwürfe und ein Titeleinband aus der Reihe der Bauhaus-Bücher illustrieren die erstrebte Vereinigung aller Künste. Allein ihre Porträts verletzter Soldaten (1916-18) konfrontieren uns mit der Realität des Ersten Weltkriegs. Die nahe liegende Verbindung von Gegenwartskunst und STURM wird nur für die sensationellen Ganzkörpermasken von Lavinia Schulz dargestellt. Von aktuellen Performance-Studien ausgehend, untersucht Claudia Banz das raumplastische Potential und den überquellenden Stoffreichtum dieser Figuren im Zusammenhang mit Theater- und Tanzreformen und neuen Körperkonzepten im frühen 20. Jahrhundert - ein analytischer Ansatz, der leider Ausnahme bleibt.
Der voluminöse Katalog enthält ein ausführliches, kenntnisreiches Vorwort der Kuratorin und widmet den alphabetisch geordneten Künstlerinnen je einen biografisch orientierten Text von 3-4 Seiten, der die Beziehungen zum STURM herausstellt, sowie einen äußerst großzügig bemessenen Bildteil mit ganzseitigen Farbtafeln sämtlicher Exponate. [1] Der Band bietet, einem Nachschlagewerk ähnlich, eine Fülle von Wissenswertem über Leben und Werk als Ergebnis mühsamer Recherchen, verzichtet aber auf die Auseinandersetzung mit tradierten feministischen Positionen und aktuelleren Perspektiven. [2]
Führt die demonstrative Gleichbehandlung individuell unterschiedlichen Schaffens zu neuen kunstgeschichtlichen Horizonten? Tatsächlich löst sie alte Forderungen der Kunstgeschichte ein. Ins Abseits geschobene Künstlerinnen sind ins Licht gerückt, das misogyne Konstrukt "weiblicher" im Gegensatz zur "männlichen" Kunst entfällt und ebenso bei Paaren der reflexhafte Verweis auf den männlichen Partner, der ihn in der Regel begünstigte. Machtgefälle, Sonderstatus und Marginalisierung des Weiblichen im Feld der Kunst haben sich, so scheint es, erledigt. Wenn auch die Fallstricke einer allzu sorglosen Harmonisierung der Geschlechterverhältnisse bekannt sind, bleibt hier die Autarkie von Münter, Delaunay, Uhde, Gontscharowa u.a. unangefochten. Die heterogenen Persönlichkeiten werden nun einem anderen Ordnungssystem unterworfen - ihre Bedeutung liegt, laut Werbung darin, dass sie sämtliche Stile - Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Konstruktivismus, Neue Sachlichkeit - vertreten und somit "einen etwas anderen Überblick über die wichtigsten Kunstströmungen der Avantgarde im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts" bieten (Presseinformation). Der Rückfall des Katalogs in das kunstgeschichtliche Schema, das Moderne als autonome Entwicklung von Ismen begreift, schmiedet die Vielen zu einer egalitären weiblichen Gemeinschaft zusammen. Die künstlerische Rangfolge wird ausgeblendet, ebenso die historischen Bedingungen. Obrigkeitsstaat, Weltkrieg, Russische und Novemberrevolution, die erste, kurze Demokratie in Deutschland, Inflation, das Erstarken des Nationalsozialismus schrumpfen zum gelegentlichen Annex von Biografien. Die Lehre von der reinen Kunst blendet selbst in der russischen Kunstszene den Zusammenhang von Ästhetik und Politik aus. Walden stellte bevorzugt Künstlerinnen und Künstler aus Russland, Polen, Ungarn aus. Die Revolution 1917, das auf eine neue Gesellschaftsordnung zielende radikaldemokratische Denken als Bedingung für die Kunst waren so sehr Motor für Walden, dass er in die kommunistische Partei eintrat und 1932 vor dem aufziehenden Nationalsozialismus in die Sowjetunion übersiedelte. Er starb 1941 in einem sowjetischen Gefängnis. Die zahlreichen abstrakten und gegenstandslosen Gemälde verweisen auf die starke spirituelle Strömung im Kreis von Jacoba von Heemskerck, Kandinsky, Nell und Herwarth Walden unter dem Einfluss Rudolf Steiners. Doch das Wissen um die komplexe Durchdringung von anthroposophischen, okkulten Elementen und revolutionärer kunstpolitischer Offensive, die für den STURM kennzeichnend war, wird Betrachtern und Lesern vorenthalten.
In der Epoche zunehmender Emanzipation war Walden als Sammler, Händler, Galerist erfolgreich und Frauen erweiterten ihre Rolle im Kunstbetrieb. Unterschiedliche Akteurinnen, die als Kunstschaffende auch Managerinnen und transnationale Netzwerkerinnen waren, trieben das Projekt STURM voran. Van Heemskerck, die durch regelmäßige Sturm-Ausstellungen bekannt wurde, richtete 1917 für Walden eine Sturm-Filiale in Den Haag ein. Die Malerin Nelly Walden, die zweite Ehefrau, sammelte, organisierte Ausstellungen und war lebenslang für den Sturm publizistisch tätig. Es gelang ihr, Teile ihrer Kunstsammlungen vor den Nationalsozialisten in die Schweiz zu retten. Die ausgewählten Gemälde können allerdings ihren Ruf als Malerin nicht festigen. Gleiches gilt für Hilla Rebay und ihre ins Dekorative abgewandelten gegenstandslosen Arbeiten. Aber sie fungierte als Beraterin Solomon R. Guggenheims und hatte so einen erheblichen Anteil an der Institutionalisierung abstrakter Kunst im New Yorker Museum. Statt Kunstproduktion zum alleinigen Maßstab zu erheben, sollten auch Sammeln, Ausstellungsorganisation, Kunstkritik, Netzwerken als Bedingung des avantgardistischen Kunstbetriebs beleuchtet werden. [3]
Anmerkungen:
[1] Zu Vorarbeiten s. Karla Bilang: Frauen im "Sturm". Künstlerinnen der Moderne, Berlin 2013; Antje Birthälmer / Gerhard Finckh (Hgg.): Ausst.-Kat. Der Sturm, Band 1, Andrea von Hülsen-Esch / Gerhard Finckh (Hgg.), Band 2, Wuppertal 2012.
[2] Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Die Ikonographie der Gleichheit und die Künstlerinnen der russischen Avantgarde, in: Kritische Berichte 4 (1992), 5-25; Florian Steininger u.a. (Hg.): Ausst.-Kat. Liebe in Zeiten der Revolution. Künstlerpaare der russischen Revolution, Wien 2015/16.
[3] Vgl. Julia Voss: Hinter weißen Wänden. Behind the white cube, Berlin 2015.
Ellen Spickernagel