Andreas Pettenkofer: Die Entstehung der grünen Politik. Kultursoziologie der westdeutschen Umweltbewegung, Frankfurt/M.: Campus 2014, 383 S., ISBN 978-3-593-39417-6, EUR 34,90
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Grüne Politik ist heute längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Doch wie ist es dazu gekommen, wo liegen die Ursprünge und die Ursachen für diesen rasanten Aufstieg, der längst auch die großen Parteien erfasst hat? Für den Soziologen Andreas Pettenkofer handelt es sich dabei um eine unwahrscheinliche Entwicklung, die weder mit Theorien rationalen Handelns noch mit der systemischen Notwendigkeit im Modernisierungsprozess allein erklärt werden kann. Es bedarf einer anderen Erklärung, die individuelle Erfahrung, Ereignisse und Strukturen gleichermaßen ernst nimmt. Pettenkofer wählt einen religionssoziologischen Ansatz, und dabei wird ihm die jüngere Vergangenheit zu einem fernen Land, wo er die seltsamen gemeinschaftsstiftenden und manchmal auch gewalttätigen Rituale seiner fremdartigen Bewohner untersucht.
Allerdings misstraut er ihren Aussagen, die den Lauf der Geschichte seiner Ansicht nach nur verfälschen (350). Er greift lieber auf zeitgenössisches Archivmaterial zurück, das aus "protesteigenen Printmedien" (32) wie dem Arbeiterkampf, der graswurzelrevolution oder dem Kursbuch besteht. Diese Quellen analysiert er in der Sprache der Altvorderen der Religionssoziologie, Max Weber und Emile Durkheim. Dabei verwandeln sich Proteste gegen Atomkraftwerke in Rituale (27), welche die Aktivisten in einen Zustand der Euphorie setzen und solchen Objekten einen sakralen Sinn zuweisen, den sie vorher nicht hatten (29). Es sind nämlich, so die Crux, nicht immer direkte, konkrete Erfolge das Ziel solcher Aktionen, sondern die Frage nach dem richtigen Leben und danach, ob das eigene mit diesen Vorstellungen konform geht, steht im Vordergrund. Trotz aller Unterschiede zwischen linken Splittergruppen, undogmatischen Spontis, oder militanten und pazifistischen Gruppierungen wecken die gemeinsamen Protestereignisse bei den "Virtuosengemeinschaften" (24) die Sehnsucht nach Wiederholung der Gründungsmomente, die Erfahrung des Sakralen wirkt ansteckend und es entstehen starke Metaphern, die sich zu "Paradigmen" oder gar "Kosmologien" verfestigen (27). Dahinter stecken "die Dynamik von Kirche und Sekte" (26), und "die Unterscheidung zwischen heilig und profan" (22), und das macht den Unterschied aus zwischen Pettenkofers Theorieangebot und dem "Modell zweckrationalen Handelns" (15) oder dem der Modernisierungstheoretiker.
Eine solche Haltung ist nicht ohne Fallgruben, und Pettenkofer tut gut daran, gleich zu Beginn sich von denen abzusetzen, die den Sektenbegriff zu "Pathologisierungszwecken" (22) verwenden - schließlich gehören "Sekte" und Religionsverdacht bis heute zu dem Repertoire derjenigen, die gegen vermeintliche grüne Ideologen, Energiewende oder Ökodiktatur wettern. Pettenkofer setzt sich davon ab und betont, dass es ihm mit seinem Theorieangebot darum geht, "allgemeine Bedingungen anspruchsvoller Formen kollektiven Handelns zu erfassen" (22) sowie "Prozesse des kulturellen Wandels" (27) zu erklären. Was folgt, ist eine detaillierte Studie, in der die großen Protestaktionen und Schlachten der Anti-AKW Bewegung nicht zu kurz kommen und die einen faszinierenden Einblick in das Innenleben der Bewegung geben, die zur Entstehung der grünen Politik führte.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert, in denen chronologisch aufeinanderfolgende Etappen in Form einer "hermeneutischen Sequenzanalyse" (32) dargestellt werden. Der Ursprung der grünen Politik ist, so die zentrale These im ersten Teil, nicht in der Umweltbewegung, sondern in den antiautoritären Protesten der Studentenbewegung zu finden. Der Ausschluss des SDS aus der SPD setzt die Dynamik von Kirche und Sekte in Gang und bringt ein heterogenes "Protestfeld" (25) hervor, das sich zwischen 1966 und 1973 herausbildet. Es ist gekennzeichnet von der Dauerkonkurrenz zwischen marxistisch-leninistischen Splittergruppen, den "Undogmatischen" oder "Spontis" und der Entstehung von gewaltfreien Aktionsgruppen.
Der zweite Teil demonstriert exemplarisch an der schrittweisen "Sakralisierung der politischen Ökologie (1973 - 1977)" das Potential des Theorieansatzes des Autors. Ausgehend von dem gewaltfreien Protest in Whyl und dem militanten Widerstand in Brokdorf entwickelt Pettenkofer einen faszinierenden Einblick in die schrittweise Entstehung einer Anti-AKW Bewegung, in deren Verlauf die "negative Sakralisierung der Kerntechnik" (209) zum zentralen gemeinsamen Merkmal einer entstehenden grünen Politik wird: "Insgesamt führt dieser Sakralisierungsprozess für die Betroffenen zu einer Neuordnung ihrer Welt. Im untersuchten Fall wird das Atomkraftwerk zu einem Objekt, das eine Verknüpfung von politischen Themen erlaubt, die zuvor klar separiert waren" (301). Das AKW steht symbolisch für die Eigenschaften des abgelehnten Staates, es ist Vernetzungspunkt und symbolischer Bezugspunkt verfeindeter Gruppierungen und wird so "zum integrierenden (Negativ-) Totem einer neuen politischen Einheit, die nicht nur ehemalige Beteiligte der Studentenbewegung einschließt" (301). Die Verwendung des Begriffs "Totem" zeigt, wie ernst Pettenkofer die Analogie zu den Gewaltritualen der "Primitiven" bei Durkheim nimmt.
Die außerparlamentarische Verfestigung zwischen 1978 und 1984 ist Thema des dritten und letzten Teils des Buchs. "Konkurrierende Euphorien" (278) kennzeichnen den gewaltfreien Protest in Gorleben und den militanten Protest in den Schlachten bei Brokdorf. Während die K-Gruppen rapide an Bedeutung verlieren, verfestigt sich der Anti-AKW Diskurs und es entsteht eine "Katastrophenkosmologie" (288); die Bewegung erweitert sich zur Friedensbewegung und greift allgemeine politische Themen auf. Dieser Protestdiskurs wiederholt sich auch in der soziologischen Theoriebildung, wie Pettenkofer in einem Exkurs (303ff.) über Ulrich Beck und andere einfließen lässt - und sich somit auch implizit davon distanziert.
Der Rekurs auf die Soziologie selbst ist dabei durchaus erhellend. Der Autor bleibt in der ganzen Studie merkwürdig ort-, alters- und vor allem meinungslos, zumindest an der Oberfläche. Doch das fremde Land mit den eigenartigen Ritualen, das er hier beschreibt, ist nicht irgendein fernes Land, sondern das des Autors und seiner Leser und einer CDU Bundeskanzlerin, die der Atomkraft in Deutschland den Strom abdreht. Wer will hier entscheiden, was "heilig" und was "profan", was säkular und was sakral, wer Kirche und wer Sekte ist? Wie die Grenze ziehen zwischen dem politisch heißen Sektenbegriff und dem analytisch kalten, zumal wenn der Autor sich selbst konsequent nicht outet, was seine eigene Haltung ist? Sekte ist immer negativ konnotiert, keine Gruppierung bezeichnet sich so, und in der Religionswissenschaft wird der Begriff daher weitgehend vermieden.
Aus der Geschichte der Ethnologie ist bekannt, dass das Fremde irgendwann zurückschaut und eine Wechselbeziehung zwischen fremd und eigen entsteht. Dies geschieht auch hier, wenn auch nur auf versteckte Weise. Die Studie ist Teil eines soziologischen Projekts, die Mechanismen des kulturellen Wandels im Allgemeinen und von Protestbewegungen im Besonderen zu entschlüsseln. Dieser positivistische Ansatz wird, um in der Sprache des Theorieangebots von Pettenkofer zu bleiben, von unterschiedlichen soziologischen Sekten verfolgt. Mit ihnen, nicht mit der grünen Politik, findet die eigentliche Auseinandersetzung statt, in den Einleitungen und Zusammenfassungen der jeweiligen Kapitel. Diese unterscheiden sich im Duktus stark von den empirischen Teilen der Arbeit und sind durch eine streng akademisch - formalistische Sprache geprägt: "Aus der Sicht eines Gelegenheitsstruktur-Modells wäre also folgendes zu erwarten..." (307) ist eine typische Redewendung, wie sie nur in Dissertationen und anderen akademischen Arbeiten zu erwarten ist. In diesen Auseinandersetzungen vollzieht sich eine seltsame Mimikry: die Studie wird selbst Teil eines Rituals. Die sektiererischen Theorieströmungen entwickeln eine konkurrierende Virtuosenmentalität, die objektive Wissenschaft, der die Funktion zugesprochen wird erklären zu können wie Gesellschaft funktioniert, wird zum Totem. Eher unfreiwillig gibt diese Studie so auch einen Einblick in die Gepflogenheiten in der akademischen Soziologie.
Doch trotz dieses blinden Flecks erweist sich Andreas Pettenkofer als ein akribischer und virtuoser Interpret der Archivmaterialien, und seine Version der Entstehung der grünen Politik liefert einen verdienstvollen Einblick in ein zentrales Element der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Werner Krauß