Stephan Conermann: Islamische Welten. Einführung, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/10/forum/islamische-welten-199/
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Von Stephan Conermann
In diesem FORUM "Islamische Welten" finden Sie Neuerscheinungen, die sich vornehmlich mit modernen Themen beschäftigen. Im Mittelpunkt von drei Büchern stehen dabei muslimische Jugendkulturen. Zunächst ein Sammelband mit 22 Aufsätzen, in denen den Identifikationsprozessen dieser (schwer zu definierenden) Gruppe in verschiedenen Ländern zwischen 9/11 und dem Ausbruch des "Arabischen Frühlings" nachgegangen wird. (Reuter zu Herrera/Bayat) Den Lebenswelten arabischer Jugendlicher und deren Rolle im städtischen Widerstand im Umfeld der Ereignisse nach 2011 widmet sich anhand vieler interessanter Fallbeispiele ein anderer Band. Die Jugend hat dabei eine Zwitterstellung. Zum einen sieht man in ihnen Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft, zum anderen sind viele natürlich auch die Akteure des (mitunter gewalttätigen) revolutionären Willens. (El-Menshawy zu Gertel/Ouaissa) Auf die Bedeutung digitaler Medien und die gezielte Nutzung sozialer Netzwerke in diesem Aufbegehren gegen Korruption, Menschenrechtsverletzungen und Machtmissbrauch staatlicher Eliten durch die bestens vernetzten jungen Menschen ist schon oft hingewiesen worden. In einem weiteren Gemeinschaftswerk erhalten wir aber auf der Basis von 23 medienwissenschaftlicher Länderanalysen eine sehr gute, komparativ angelegte Übersicht, die auch die Strategien der digitalen Aufstandsbekämpfung durch eine Reihe von autoritären Regimen beinhaltet. (Parsa zu Howard/Hussain)
Die nächsten beiden Bücher beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Phänomenen in zwei sehr unterschiedlichen arabischen Ländern. Am Beispiel der Situation von Frauen setzt sich die erste Monographie mit der sozialen Ungleichheit in Oman auseinander. Schlüsselbegriffe des islamischen Rechts sind dabei kafa´a und talaq, d.h. der für eine Heirat notwendige gleiche soziale Status der Partner und das Recht des Mannes auf Scheidung. Die Spannungen verlaufen entlang folgender Linien: ibaditische Gelehrte vs. tribale Normen, Grundgesetz vs. Personenstandsrecht, Küstenregion vs. Landesinnere, gesellschaftliche Modernisierung vs. religiöse und traditionelle Weltsichten. Letztlich prägt die Angst vor Veränderungen der Sozialstruktur die omanische Familie. (Schüller zu Azri) Ziel der zweiten Arbeit ist es, eine theoretisch wie auch historisch begründbare Aussage über die Stabilität des haschemitischen Herrschaftssystems unter König Abdallah II. zu treffen. Letztlich geht es um die Geschichte Jordaniens nach dem Irak-Krieg 2003, in deren Verlauf die politische Führung bekanntermaßen gegen die in der Bevölkerung vorherrschende pro-irakische Stimmung eine politische Kehrtwende vollzog und sich im Anschluss daran mit einer islamistischen Bedrohung wie auch mit einem massiven Flüchtlingsproblem konfrontiert sah. Dennoch, so kann der Verfasser offenbar zeigen, ist es Abdallah II. mittelfristig gelungen, das Land stabil zu halten. (Sen zu Teichgreeber)
Als Identitätsmarker gelten im Nahen Osten in der Regel das "Arabertum" und/oder der Islam. Der Rückbezug auf die Zugehörigkeit zu einer arabischen Gesamtgemeinschaft hatte seinen Höhepunkt in den 1960er Jahren, doch existiert seit einiger Zeit ein supra-nationalistischer, massenorientierter und nicht konkret politischer Neo-Arabismus. Eine saubere Medienanalyse macht in Zusammenhang mit ethnographischen Interviews deutlich, dass diese Strömung heute durchaus von vielen Menschen in Syrien und Jordanien verinnerlicht worden ist. (Schüller zu Philipps) Interessant ist dann auch die Frage, ob Religion wirklich, wie so oft zu hören ist, den Kitt bildet, der alle Gesellschaften in der Region zusammenhält. Leider kann das hier besprochene Buch keine überzeugenden Antworten geben, da es sich nur aus nicht aufeinander bezogenen Aufsätzen des Autors zusammensetzt. (Ricken zu Zubaida) Dass aber Nationalismus und liberales Gedankengut keine unvereinbaren Gegensätze ein müssen, belegen die Beiträge eines anderen Sammelbandes. Liberale Schlüsselforderungen wie individuelle Rechte, Parlamentarismus und eine auf eine Verfassung basierende politische Ordnung verfochten - trotz der bisweilen spürbaren grundsätzlichen Skepsis gegenüber der westlichen Moderne - auch viele arabische Nationalisten des 20. Jahrhunderts. (Ricken zu Schumann) Die agnotologische Frage, warum einige wichtige historische Personen, Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen vergessen oder aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wurden, scheint mir hochspannend zu sein. Elf Artikel liefern anschauliche Exempla dieses wichtigen menschlichen Vergesellschaftungsprozesses. Dabei geht es etwa um das Schicksal der durch den Völkermord an den Armeniern 1915 verwitweten Frauen, die eine islamische Ehe eingingen oder zum Schein konvertierten, um die arabische Revolte in Palästina 1936-1939 oder um Personen wie den tscherkessischen Guerillaführer im türkischen Unabhängigkeitskrieg Çerkez Ethem (1886-1948). (Schirrmacher zu Singer/Neumann/Somel) Etwas kritisch äußert sich die Rezensentin der letzten Arbeit, eine Untersuchung der Faktoren, die in der Zeit von 1908 bis 1918 gleichzeitig zu dem Zusammenbruch des Osmanischen und des Russischen Reiches geführt haben. Die Studie sei letztlich zu sehr ereignisgeschichtlich aufgebaut und ließe die Perspektive der lokalen Akteure völlig unberücksichtigt. (Mindić zu Reynolds)
Noch ein Satz zu den zum Teil etwas länger zurückliegenden Publikationsdaten der Bücher: Ich habe über die Zeit die Erfahrung gemacht, dass in unserem Fach viele Rezensionen tatsächlich erst nach drei bis vier Jahren erscheinen. Dies mag damit zusammenhängen, dass es zum einen doch nicht so einfach ist, geeignete Rezensen/tinn/en zu finden und zum anderen viele versprochene Besprechungen einfach sehr lange liegen bleiben ...
Allen Lesern wünsche ich dennoch eine erbauliche Lektüre des FORUMs "Islamische Welten"!