Johannes Roloff: Der Holocaust als Herausforderung für den Geschichtsunterricht (= Erinnern und Lernen; Bd. 10), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, 128 S., ISBN 978-3-643-11880-6, EUR 19,90
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"Der Holocaust als Herausforderung für den Geschichtsunterricht" - der weitreichende Titel und die Einleitung des schmalen Bandes schüren große Erwartungen. Johannes Roloff rückt in ihm die Frage in den Vordergrund, "wie der Nationalsozialismus und dessen Gewaltverbrechen in das 'kulturelle Gedächtnis' (Jan Assmann) der deutschen Bevölkerung und Gesellschaft eingegangen sind und wie diese infolge dessen an Schulen unterrichtet werden können" (7). Besonders will der Verfasser dabei ergründen, "wie der Holocaust in Deutschland lebenden Jugendlichen vermittelt werden kann, die in keinerlei genealogischem Verhältnis zu diesem stehen" (ebd.).
Um dieses umfassende Vorhaben umzusetzen, hat sich Roloff für einen zweistufigen Ansatz entschieden. Nach einem kurz und knapp "Das kulturelle Gedächtnis" betitelten Abriss der erinnerungskulturellen Konzeptionen Jan und Aleida Assmanns zeichnet er in einem ersten Schritt die wechselvollen Wege nach, welche die Erinnerung an den Nationalsozialismus in Deutschland genommen hat. In einem zweiten, "didaktischen Teil" (9) schließt daran die Auseinandersetzung mit ausgesuchten Konzeptionen der Schoahbildung an. Hier richtet Roloff die Aufmerksamkeit schwerpunkthaft auf "die zwei bekannten Erziehungsprogramme 'Erziehung nach Auschwitz' und 'Konfrontationen'", die er "vor dem Hintergrund der bundesdeutschen Erinnerungsgeschichte und der politisch-sozialen Aktualität" hinterfragen und "deren Handhabbarkeit" er überprüfen möchte (ebd.). Ein kurzer Blick wird weiterhin auf die Bildungsentwürfe Astrid Messerschmidts ("Konstellationen"), des Berliner Anne Frank Zentrums ("Mehrheit, Macht, Geschichte") und der Menschenrechtspädagogik allgemein geworfen.
Methodisch-theoretisch bekennt sich Roloff in Anlehnung an Positionen Aleida Assmanns zu einem narratologischen Lernverständnis, demzufolge "ein Lernen im Sinne des kulturellen Gedächtnisses" (20) verlange, Lernende nicht alleine mit den gegenwärtig national kursierenden Deutungen vertraut zu machen, sondern ebenso mit vergangenen Interpretationshorizonten und mit alternativen in der Welt zirkulierenden Erinnerungsweisen. Diese Perspektive leitet ihn bei der Erörterung der beiden schwerpunkthaft ausgewählten "Erziehungsprogramme". Allerdings bildet das erste kein greifbares Einzelkonzept, vielmehr fasst es mehrere auf Theodor W. Adornos berühmten Radiovortrag "Erziehung nach Auschwitz" von 1966 zurückgehende, geschichtsdidaktische wie religionspädagogische Bildungskonzeptionen zusammen. Dabei sticht die Beschäftigung mit Publikationen Ido (nicht "Ibo"!) Abrams und Matthias Heyls hervor, von denen das Buch "Thema Holocaust" (1996) seinerzeit sicherlich die größte Wirkung entfaltete. Roloff gelingt es dabei, jeweils Eigenarten und Kernaspekte der unterschiedlichen Herangehensweisen herauszuarbeiten. Sehr vielen seiner Ausführungen, die mit gedenkstättenpädagogischen und geschichtsdidaktischen Grundfesten konform gehen, kann man unumwunden zustimmen. Insbesondere gilt dies für die Forderung, die Erinnerungskultur selbst in die Reflexion einzubeziehen.
Allerdings weist das Buch mehrere gravierende Schwächen auf. Ein erstes Kernproblem stellt die mangelnde Schärfe der Untersuchungsmethode dar. Ohnedies ließe sich fragen, ob es heute noch genügt, eine Analyse primär auf die seit den 1990er Jahren wirkmächtigen erinnerungskulturellen Konzeptionen des Ehepaars Assmann zu stützen, ohne die sich darum rankenden Diskussionen, die Erweiterungen und die Alternativen in die Reflexion einzubeziehen. Doch akzeptiert man dies einmal als probates Vorgehen, das schon zahllose frühere Arbeiten fruchtbar zu machen verstanden haben, hätte sich hieraus sicherlich ein Bündel ebenso erkenntnisscharfer wie handhabbarer Untersuchungskriterien generieren lassen. Stattdessen aber entwickelt Roloff einen "Referenzrahmen" (erst 63 - die Einleitung wäre der bessere Ort hierfür gewesen), der faktisch einer geschichtsdidaktischen Totalanalyse gleichkommt: In ihm finden die Fragen nach den Quellengattungen, dem Inhalt und der Beziehungsebene ebenso ihren Platz wie eine Bewertung nach Unterrichtsprinzipien und Denkstilen in Anlehnung an Hans-Jürgen Pandel, Michael Sauer und Klaus Bergmann(63f.). Auch der die geschichtsdidaktische Diskussion übergehende Kompetenzbegriff wird en passant noch integriert (64). Die Fülle der Gesichtspunkte bedingt, dass jeder nur kurz gestreift werden kann. Wie diese elaborierten Fachkategorien jeweils zueinander in Beziehung stehen und inwieweit sie untereinander widerspruchsfrei zu verknüpfen sind, bleibt ungeklärt. Diese mangelnde Schärfe der Untersuchungsmethodik korrespondiert mit einer problematischen Bestimmung der einzelnen Untersuchungsgegenstände. Denn dass sich vor allem hinter dem ersten "Bildungsprogramm" eine heterogene Sammlung verbirgt, erschwert zusätzlich jede analytische Prägnanz.
Eine zweite Schwierigkeit liegt in der Sprunghaftigkeit und Flüchtigkeit der Argumentation. Über weite Strecken hat sie kompilatorischen Charakter: Vielfach kettet Roloff Gesichtspunkte und Forschungspositionen zu Lasten einer differenzierenden Kritik in loser Folge aneinander. So setzt er sich mit Adornos wichtiger Schrift auf gerade einmal vier Seiten auseinander, von denen zwei wichtige Zitate zusammenstellen, aber kaum den Gesamtgedankengang resümieren. Die anschließende Aneinanderreihung der in der Nachfolge Adornos entwickelten Konzepte kommt kaum einmal über die Reproduktion der Positionen hinaus: Der erst nach acht Seiten vorgenommene Abgleich mit der Fragestellung beschränkt sich auf einen einzigen Absatz (84). Der sprunghafte Charakter äußert sich zudem in dem Umstand, dass Zusammengehöriges an weit auseinanderliegenden Stellen angesprochen, aber nicht in einen Zusammenhang gebracht wird: Der Beitrag Hans-Jürgen Pandels zur Kompetenzdiskussion - Stichwort 'geschichtskulturelle Kompetenz' - hätte beispielsweise genau dort erwähnt werden müssen, wo beabsichtigt wird, Lernende mit der Aufarbeitungsgeschichte des Nationalsozialismus vertraut zu machen. Weit verstreut sind auch die vereinzelten Verweise auf die Ergebnisse empirischer Untersuchungen, deren Diskussionszusammenhang nicht deutlich wird.
Eine dritte Schwäche liegt in der selektiven, punktuellen und unbegründeten Auswahl der Sekundärliteratur wie der untersuchten Ansätze. Ido Abrams und Matthias Heyls Buch ist ebenso wie "Konfrontationen" schon fast zwei Jahrzehnte auf dem Markt. Seitdem hat sich die Bildungslandschaft aber verändert und neben den am Ende kurz erwähnten (100-106) hätten viele andere Konzeptionen eine Berücksichtigung verdient gehabt, und zwar gerade auch solche, welche dezidiert auf die Anforderungen der Migrationsgesellschaft reagieren. Völlig zu Recht bringt Roloff zwei große Diskussionen ins Spiel, nämlich die Frage, inwieweit eine Auseinandersetzung mit der Schoah an eine Menschenrechtsbildung gekoppelt werden kann, und die Debatte um die Legitimität von Genozidvergleichen (99), doch auch hier bleibt es beim unkontextualisierten Verweis auf Einzelstimmen (Viola B. Georgi, Micha Brumlik). Inhaltlich ist die Erfassung der pädagogischen und didaktischen Positionen an manchen Stellen in der Mitte der 1990er Jahre stehengeblieben, selbst wenn vielfach jüngere Werke zitiert werden. Wichtige seit 2000 erschienene Beiträge werden übergangen; zum Beleg genannt seien zumindest die Sammelbände "Schule und Nationalsozialismus" [1] und "Bevor Vergangenheit vergeht"[2] oder die Dissertation von Meik Zülsdorf-Kersting. [3]
Dass die Rezension im Ganzen negativ ausfällt, ist nicht einmal vornehmlich dem Verfasser der Monographie anzulasten, die aus einer Staatsexamensarbeit hervorgegangen ist. Nimmt man sie als solche, ist die Leistung nicht geringzuschätzen - als eine Arbeit, die ein Studium beschließen soll und in wenigen Monaten anzufertigen ist, bezeugt sie die Fähigkeit des Verfassers, sich schnell in eine Vielzahl von Diskursen einzuarbeiten. Auch spricht nichts grundsätzlich gegen die Veröffentlichung herausragender Examensarbeiten. Doch wo dies gerechtfertigt ist, wurde meist ein klar umrissenes und überschaubares Feld bearbeitet. Hier aber steht der Horizont, den ein in dieser Weise betiteltes Werk umfassen müsste, in einem Missverhältnis zu dem, was zu diesem Zeitpunkt einer wissenschaftlichen Laufbahn zu leisten ist. Damit aber richtet sich die Kritik hauptsächlich an den Betreuer der Arbeit und noch mehr an die Reihenherausgeber, die hätten erkennen müssen, dass die Arbeit in einer so facettenreichen Forschungslandschaft hinter den Erwartungen zurückbleiben muss.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Meseth / Matthias Proske / Frank-Olaf Radtke (Hgg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Frankfurt 2004.
[2] Thomas Schlag / Michael Scherrmann (Hgg.): Bevor Vergangenheit vergeht. Für einen zeitgemäßen Politik- und Geschichtsunterricht über Nationalsozialismus und Rechtsextremismus, Schwalbach/Ts. 2005.
[3] Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation, Berlin 2007.
Oliver Plessow